„Opferfokussierung gefährdet Wahrheitsfindung“

Eine Replik auf die Strafverteidigervereinigung NRW und RA Stahl

Mit unseren Beiträgen am ersten Verhandlungstag haben wir offenbar eine längst überfällige Diskussion angestossen, die mittlerweile etwas an Sarrazin erinnert. „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ hieß es dort, „Man wird ja wohl noch Anträge stellen dürfen“, heisst es jetzt. Man darf beides, aber man darf eben auch die Äusserungen oder die Anträge kritisieren.

Am heftigsten fiel die Reaktion der Strafverteidigervereinigung NRW unter dem Titel „Opferfokussierung gefährdet Wahrheitsfindung“ aus, die natürlich auch sofort auf die Homepage von RA Stahl übernommen wurde. Selten haben wir eine so kurze Erklärung gelesen, in der soviel Falsches steht.

Was ist Opferfokussierung?

Es gab an dem ganze ersten Verhandlungstag vielleicht Beiträge von insgesamt 15 – 20 Min. Dauer, die von Nebenklagevertretern gehalten wurden, was ist das gegen die endlosen Antragslitaneien der Verteidigung.

Aber selbst wenn es diese Fokussierung gäbe, warum gefährdet sie die Wahrheitsfindung? Wer hat ein grösseres Interesse an der Wahrheit als die Opfer? Oder sprechen wir hier von unterschiedlichen Wahrheitsbegriffen? In der Erklärung finden wir nichts dazu, warum Nebenkläger die Wahrheitsfindung torpedieren. Wir lesen stattdessen: „Die Strafverteidigervereinigungen lehnen eine Teilhabe von Nebenklägern und ih­ren Vertretern am Strafverfahren mit allen Rechten, wie sie auch Verteidiger haben, ab, da dies die Rechte von Verteidigung tangiert und in Extremfällen, zu denen die­ses Hauptverfahren gehören mag, marginalisieren kann.“

Eigentlich sagt man, vier Augen sehen mehr als zwei und natürlich ca. 200 Augen mehr als 30. Ginge es also um die Wahrheit im Sinne der eindeutigen Feststellung eines realen Geschehens, müssten die Verteidiger für jede Unterstützung bei der Wahrheitssuche dankbar sein. Offenbar geht es aber der Strafverteidiger­vereinigung um die sogenannte prozessuale Wahrheit, die oft meilenweit von der materiellen Wahrheit entfernt sein kann, wie die Entscheidung des BVerfG zum Deal (s. auch die Presseerklärung) in Strafverfahren belegt.

Gerichte kein Ort der geschichtlichen Aufarbeitung?

Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, dass in vielen Fällen Verteidiger das Interesse haben, nicht die volle Wahrheit zu ermitteln und dass dies in vielen Fällen auch mit sauberen Mitteln, z.B. dem Schweigen, gelingt. Die dann erreichte prozessuale Wahrheit oder besser Unklarheit („Im Zweifel für den Angeklagten“) darf sich aber nicht das Mäntelchen der „Wahrheitsfindung“ umhängen. Wenn Angeklagte kein Interesse an der materiellen Wahrheit haben, dann wird es natürlich schwerer, wenn neben Staatsanwälten, die in vielen Fällen (nicht im NSU-Verfahren) nicht besonders engagiert sind, Nebenkläger und deren Vertreter auftreten, die intensiv ihre Interessen vertreten.

Das grösste Erstaunen hat bei uns allerdings der Absatz hervorgerufen:

Die Hauptverhandlung ist der Ort ausschließlich der Klärung der Frage der Schuld der Angeklagten unter Wahrung der Gebote des fair trial und der Unschuldsvermutung. Sie ist nicht der Ort geschichtlicher Aufarbeitung oder der Abrechnung mit mannigfaltigem Versagen von Strafverfolgungsbehörden.

Was war denn mit dem Auschwitzprozess, mit dem Verfahren gegen Honecker oder auch mit aktuellen Verfahren gegen KZ-Aufseher? Das dient natürlich (auch) der geschichtlichen Aufarbeitung. Als wir in den 60ger Jahren mit dem Studium begannen, haben wir uns gegen die Juristen gewandt, die gerade den Zusammenhang zwischen geschichtlichen Entwicklungen und juristischem Handeln leugneten. Es war unsere Forderung, dass in den Verfahren geschichtliche Aufarbeitungen stattfinden. Ist das alles vergessen und soll nun auf dem Altar „Strafverteidigung“ geopfert werden?

Natürlich hat im NSU-Verfahren eine geschichtliche Aufarbeitung eines wesentlichen Abschnittes der BRD stattzufinden: Wie konnte es nach den Anschlägen von Mölln, Solingen und Rostock dazu kommen, dass 3 Neonazis über 10 Jahre im Untergrund verschwinden und 10 Morde brutalster Art begehen, die sich eigentlich nur mit den Taten des Norwegers Breivik vergleichen lassen.

Ist das Verfahren tatsächlich nicht der Ort der „Abrechnung mit mannigfaltigem Versagen von Strafverfolgungsbehörden“? Oder wird er das erst, wenn Verteidiger – dann natürlich völlig legitim auch in den Augen der Strafverteidigerverei­nigung – diesen Umstand als Strafmilderungsgrund anführen wollen?

Die Beteiligung von Nebenklägern mag die Verteidigung erschweren, nicht aber die Wahrheitsfindung.