Jetzt reicht es dem Bundesverfassungsgericht – Höchststrafe für die Berliner Pressekammer

Kurz kommentiertBVerG 1 BvR 1246/20

Die Selbstverständlichkeit der Gewährung rechtlichen Gehörs vor einer gerichtlichen Entscheidung wurde seit Jahrzehnten von den Pressekammern mit Füßen getreten. Das Bundesverfassungsgericht hat hier die Zügel angezogen und in einer ersten Entscheidung  1 BvR 764/17  vom 6.6.2017  die Pressekammern ermahnt (Wir hatten darüber hier berichtet). Als dies allerdings nicht zu einer Änderung der Praxis führte, hat dann das Bundesverfassungsgericht in zwei Entscheidungen vom 30.9.2018 (1 BvR 1783/17 und 1 BvR 2421/17) erstmalig festgestellt,

„dass der Beschluss des Landgerichts ….. die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes verletzt.“

Auch darüber hatten wir berichtet. Auch nach unserer Beobachtung hielten viele Pressekammern diese Entscheidungen oft nicht ein, das Schlupfloch, das das Bundesverfassungsgericht den Gerichten für eine ausnahmsweise Entscheidung ohne Anhörung der Gegenseite gelassen hatte, wurde flugs wieder nach Rififi-art zu einem Scheunentor geöffnet.

Zwischenzeitlich war das Bundesverfassungsgericht noch einmal versöhnlich auf die Instanzgerichte zugegangen  und hatte zwei Verfassungsbeschwerden abgewiesen, weil die zugrunde liegenden Rechtsfragen geklärt seien und nicht

„eine hinreichend konkrete Gefahr bestände, dass unter ähnlichen rechtlichen und tatsächlichen Umständen eine gleichartige Entscheidung ergehen würde.“

Nunmehr musste das Bundesverfassungsgericht aber wohl zur Kenntnis nehmen, dass seine Entscheidungen nicht von allen Gerichten ernst genommen wird. Besonders dreist trieb es dabei die Berliner Pressekammer über die wir hier schon geschrieben hatten, und bei der wir in der Auseinandersetzung mit dem Tönnies Fleischkonzern so ziemlich dasselbe erlebten, was der Beschweerdeführer im jetzigen Fall.

Der aktuelle Fall

In dem jetzt entschiedenen Fall wich nicht nur der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung von der vorangegangenen Abmahnung ab, es wurde sogar noch ein völlig neuer Antrag gestellt, zu dem der Prozessgegner auch nicht angehört wurde. Auf den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung reagierte das Gericht überhaupt nicht, das Verfassungsgericht zitiert offenbar wohlwollend aus der Antragsschrift, in der der Hintergrund für diese Verfahrensweise dargestellt wird:

„Der Beschwerdeführer wendet sich gegen ein seinem Vorbringen nach bewusstes Übergehen seiner prozessualen Rechte, das das Landgericht im Vertrauen daraufhin praktiziert habe, dass diese Rechtsverletzung angesichts später eröffneter Verteidigungs- und Heilungsmöglichkeiten folgenlos bleibe und deshalb nicht geltend gemacht werden könne.“

Diesmal begnügt sich das Verfassungsgericht nicht mit der Feststellung, dass das Vorgehen der Berliner Pressekammer den Antragsgegner in seinen Rechten verletzt, sondern es greift tief in die Entscheidungskompetenz des Gerichtes ein und verfügt die Aussetzung der Wirksamkeit der erlassenen einstweiligen Verfügung bis zu einer neuen Entscheidung nach Anhörung des Prozessgegners.

Die bereits in den Leitentscheidungen vom 30.9.2020 formulierte Forderung, dass eine Entscheidung ohne Anhörung des Gegners allerhöchstens denkbar wäre, wenn der Antrag auf Erlass der einstweiligen Verfügung mit der Abmahnung praktisch identisch ist, wird noch einmal dahin gehend präzisiert, dass dies auch für die rechtliche Begründung für die begehrte Unterlassung im Vergleich zur Abmahnung gelten muss. Auch zu neuen rechtlichen Argumenten muss der Prozessgegner angehört werden. Argumentiert der Antragsteller in dem Antrag inhaltlich zu der Reaktion auf seine Abmahnung, muss nunmehr auch dazu der Prozessgegner angehört werden.

Konsequenzen?

Es bleibt aber weiter abzuwarten, ob dieser weitere Warnschuss nun endlich auch von anderen Pressekammern gehört wird, oder ob dort die Hoffnung vorherrscht, dass mit der baldigen Beendigung der Amtszeit des Richters am Bundesverfassungsgericht Masing, auch zu dieser Frage „praxisnäher“ – so die beliebte Kritik am Bundesverfassungsgericht –  entschieden wird.

Nimmt man die jetzige Entscheidung ernst, könnte eine Pressekammer allerdings praktisch ohne Anhörung nur noch entscheiden, wenn die vorangegangene Abmahnung identisch mit dem Antrag ist und zwar sowohl hinsichtlich der Tatsachenausführungen wie der rechtlichen Begründung. Wahrscheinlich müssen in der Abmahnung sogar konkret die eidesstattlichen Versicherungen beigefügt sein, zumindest müsste in der Abmahnung mitgeteilt werden, für welche Tatsachen eine eidesstattliche Versicherung im Prozessfall vorgelegt werden könnte.

Was tun, wenn die Gerichte sich aber trotzdem auch in Zukunft nicht an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes halten? Es steht sicherlich nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht in jedem einzelnen vergleichbaren Fall einer Verfassungsbeschwerde stattgeben wird. Allerdings könnte man bei Nichtbeachtung der Rechte des Prozessgegners über einen Befangenheitsantrag nachdenken. Im Extremfall und bei krassen Fällen könnte man tatsächlich auch an eine Strafanzeige wegen Rechtsbeugung denken (ich selbst habe in den 44 Jahren meiner Anwaltstätigkeit bisher keine entsprechende Anzeige gestellt, die weitere Missachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes könnte aber ein eindeutiger Fall sein).

Eberhard Reinecke