Warum man die Wahrheitssuche nicht Juristen überlassen sollte

und warum jedes Gericht meist sein Urteil schon fertig hat

In der Schule lernt man, dass Brutus am Mord von Cäsar beteiligt war, der noch gerufen haben soll „Auch du mein Sohn Brutus“. Nur darf man das überhaupt sagen? Muss man nicht von einem „mutmaßlichen“ Cäsar-Mörder sprechen, schließlich wurde Brutus nie in einem ordentlichen Verfahren verurteilt. Klingt etwas lächerlich, zeigt aber die unterschiedlichen Dimensionen geschichtlicher Vorgänge auf.

Allzu gerne würden Juristen die Wirklichkeit nach ihren Regeln ummodeln und ihre eigene Wahrheit zur allgemein verbindlichen Wahrheit machen. Dies wäre eine für die Gesellschaft gefährliche Entwicklung. Der NSU ist eben nicht nur ein juristisches, sondern vor allen Dingen auch ein historisches und politisches Phänomen. Wollen Juristen tatsächlich Historiker davon abhalten, dieses Phänomen aufzuarbeiten, wollen sie verhindern, dass die Verantwortlichkeit von Beate Zschäpe für die Entwicklung öffentlich diskutiert, erörtert wird und dass – wie in vielen historischen Fragen – sich dazu Meinungen herausbilden? Aber die Wahrheitssuche des Historikers und politisch denkenden Menschens folgt anderen Grundsätzen, als die Wahrheitsfindung vor Gericht. Nehmen wir ein Beispiel: Lässt ein Beschuldigter sich im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung zu den Tatvorwürfen ein, ohne dass er zuvor über sein Schweigerecht belehrt wurde, so sind diese Angaben im Verfahren gegen ihn unverwertbar. Schon die Logik gebietet aber, dass dies absolut nichts darüber aussagt, ob die Angaben, die er ohne Belehrung gemacht hat, richtig oder falsch sind. Jeder Historiker, der einen Vorgang untersucht, wird also natürlich auch solche Angaben verwerten, die im Rahmen einer solchen Vernehmung gemacht wurden, eventuell vergleichend mit späteren Angaben. Um es zuzuspitzen: Ein Historiker würde vielleicht sogar Angaben in seine Beurteilung einfließen lassen, die unter Folter entstanden sind.

Es ist insgesamt nicht die Ausnahme sondern die Regel, dass in gerichtlichen Verfahren – auch in Strafverfahren – die Wahrheit – verstanden als Gesamtsachverhalt in oft vielen Verästelungen – nicht festgestellt wird. Es wäre verheerend, wenn die beschränkte Sichtweise von Juristen gesellschaftlich definiert was Wahrheit ist.

StPO – Autisten

Auf NSU Nebenklage ist das Plädoyer von RA Heer sehr schön gekennzeichnet:

„War es schon bei den pseudo-genauen und langatmigen Ausführungen zur Beweiswürdigung äußerst ermüdend, Heer zuzuhören, so steigerte sich dies bei den Ausführungen zur rechtlichen Bewertung noch: selbstverliebt und in Manier eines Jurastudenten, der in einer Prüfung zeigen will, dass er ganz viele juristische Detailfragen kennt, auch wenn sie für die Lösung des Falles keine Relevanz haben, unternahm Heer einen mehrstündigen Ausflug durch die verschiedenen Tatbestände des Brandstiftungsrechts, um am Ende zum Ergebnis zu kommen, Zschäpe sei nur wegen einfacher Brandstiftung und fahrlässiger Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion zu bestrafen.“

Man könnte Herrn RA Heer als StPO-Autisten bezeichnen, dem man am liebsten mal zurufen würde: „Sie werden es nicht glauben, aber es gibt ein Leben außerhalb der StPO“

Politische Vorverurteilung

Wenn also in den Plädoyers der Verteidigung die von verschiedenen parlamentarischen Gremien durchgeführten Untersuchungsausschüsse angeprangert wurden, weil sie angeblich Frau Zschäpe vorverurteilt haben, so geht dies am Problem vorbei. Aufgabe von Untersuchungsausschüssen ist nicht eine juristische Aufarbeitung (im Umfang wie durch die Anklage vorgegeben), sondern eine politisch-historische Aufarbeitung und es wäre schlicht katastrophal, wenn wegen einer extensiven Ausdehnung der Unschuldsvermutung auch die politisch-historische Untersuchung des Komplexes „NSU“ bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens zu unterbleiben hätte und sich anschließend nicht mit den Ergebnissen des Strafverfahrens in Widerspruch setzen darf.

Natürlich steht niemand politisch-historischen Untersuchungen schutzlos gegenüber. So hätte Frau Zschäpe ohne Zweifel – wenn sie es gewollt hätte – in den Untersuchungsausschüssen Stellung nehmen können, sie hätte auch zum Ergebnis der Untersuchungsausschüsse etwas schreiben können und sie kann im Übrigen auch gegen unwahre Berichterstattung gerichtlich vorgehen. Niemand kann aber verlangen, dass seine Entscheidung, im Strafverfahren zu schweigen, auf alle anderen Untersuchungen ausstrahlt, wer auf der politischen, historischen Ebene nicht Stellung nimmt, kann dort auch keine besondere Rücksichtnahme erwarten.

Nun beherrscht das Schweigerecht, auf das die (Alt)-Verteidiger Zschäpes besonders pochen, das sie durch listige Polizisten in den Grundfesten erschüttert sehen, keineswegs das gesamte Rechtssystem, sondern ist eine Spezialität des Strafverfahrens. Im Zivilverfahren hingegen gilt der Grundsatz: „wer nicht (spezifiziert) bestreitet, räumt den Vortrag der Gegenseite ein“. Wenn also Frau Zschäpe sich zivilrechtlich gegen angeblich falsche Behauptungen wehren wollte, so müsste sie allerdings konkret zu Behauptungen Stellung nehmen, was sie natürlich nicht will und auch nicht kann. Und natürlich wird jeder Historiker auch verwerten, dass sich eine Angeklagte nicht zur Sache geäußert hat, wann sie sich geäußert hat etc. (Was dem Juristen in vielen Fällen verboten ist). Folgt man den Anwürfen der Verteidigung ergäbe sich aus der Unschuldsvermutung plus Schweigerecht des Angeklagten ein Stillstand der wissenschaftlich-politischen Aufarbeitung. Der Vorwurf der „Vorverurteilung“ durch die Öffentlichkeit geht also oft ins Leere, weil für die Auseinandersetzung mit Taten in der öffentlichen Diskussion andere Grundsätze gelten als im Gerichtsverfahren.

Dieses (teilweise bewusste) Vermischen von juristischen und historisch-politisch gesellschaftlichen Sachverhalten spielt z. B. auch in der Auseinandersetzung um den Regisseur Wedel eine Rolle. Völlig unabhängig von der Tatsache, ob die ihm vorgeworfenen Sachverhalte heute noch juristisch verfolgbar sind, handelt es sich dabei um wesentliche gesellschaftliche Sachverhalte, die auch jeweils als historischer Sachverhalt zu klären sind. Und natürlich gewinnen diese Sachverhalte ihre gesellschaftliche Bedeutung durch die Position der Person, der gegenüber entsprechende Vorwürfe gemacht werden, und zwar völlig unabhängig davon, ob die Vorgänge (noch) juristisch relevant sind.

„Das Gericht hat sein Urteil schon gefällt“

Auch dieser Vorwurf wird immer wieder plakativ erhoben und soll offenbar von vornherein Stimmung gegen ein erwartetes Urteil machen. Dabei wird natürlich geflissentlich verschwiegen, dass das Gericht aufgrund der Strafprozessordnung sogar verpflichtet ist, sich regelmäßig ein „Vor-Urteil“ zu bilden.

Die Eröffnung des Hauptverfahrens als „Vor-Urteil“

Das beginnt bereits mit der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung. Das Gericht hat hinsichtlich der Rechtsauffassung, die der Anklage zugrunde liegt, eine Schlüssigkeitsprüfung vorzunehmen (wenn sich die Tatsachen, wie in der Anklage behauptet, bestätigen, könnte man dann verurteilen?). Es hat darüber hinaus eine tatsächliche Würdigung vorzunehmen (wie wahrscheinlich wird es sein, dass sich im Laufe der Hauptverhandlung der Sachverhalt so bestätigt, wie in der Anklage ausgeführt?). Kommt das Gericht aufgrund einer Schlüssigkeitsprüfung zum Ergebnis, dass selbst bei Bestätigung des Sachverhaltes eine Verurteilung nicht möglich ist, hat es die Eröffnung des Hauptverfahrens abzulehnen. Umgekehrt: In der Eröffnung des Hauptverfahrens liegt damit natürlich ein „Vor-Urteil“, das nach der Rechtsauffassung des Gerichtes bei Bestätigung der Sachverhalte mit einer Verurteilung zu rechnen ist. Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen muss das Gericht davon ausgehen, dass deren Feststellung überwiegend wahrscheinlich ist. Es muss also mehr für eine Bestätigung der Tatsachen sprechen als dagegen. Auch insoweit nimmt also das Gericht bereits im Eröffnungsbeschluss ein „Urteil“ vor und legt sich in einem gewissen Umfang fest.

Haftentscheidungen als „Vor-Urteile“

Das Ganze setzt sich dann im Laufe des Verfahrens bei jeder Haftentscheidung fort. Das Gericht hat auf Antrag (eigentlich auch von Amts wegen) regelmäßig zu überprüfen, ob die Voraussetzungen des Haftbefehles (noch) vorliegen, zu diesem Zweck hat es vor allen Dingen den „dringenden Tatverdacht“ zu prüfen. Insofern verlangt die Strafprozessordnung vom Gericht eine Vielzahl von „Zwischenurteilen“, wobei z. B. die im September 2017 gefällte Haftentscheidung zu Eminger notwendigerweise auch eine Überprüfung der Frage beinhaltet, ob es den „NSU“ als terroristische Vereinigung gegeben hat (ansonsten wäre Emingers Handeln insoweit nicht strafbar). Auch hier verlangt das Gesetz also schlicht und einfach, dass sich das Gericht positioniert. Der dringende Tatverdacht, der Voraussetzung für jeden Haftbefehl ist, hat durchaus unterschiedliche Maßstäbe. Unmittelbar nach Festnahme bedarf es für die Annahme eines dringenden Tatverdachtes weniger Tatsachen als kurz vor Abschluss des Verfahrens. Hier nähert sich – und das wissen eigentlich auch alle Juristen – der dringende Tatverdacht immer mehr dem tatsächlichen Urteilsergebnis an. Es ist also keine Boshaftigkeit des Gerichtes, sondern Erfüllung seiner Aufgaben, wenn es auch schon vor dem endgültigen Urteil Festlegungen zum dringenden Tatverdacht vornimmt.

Die Urteilsberatung

Es wäre nun auf dieser Basis ein völlig irreales Verlangen, dass ein Gericht in der endgültigen Urteilsberatung noch einmal so tut, als habe es diese gesamten „Vor-Urteile“ nicht gegeben. Natürlich wird jedes Gericht an den früheren Entscheidungen anknüpfen, darauf gegebe­nenfalls aufbauen. Es muss von einem Gericht erwartet werden, dass es bis zum letzten Moment vor allen Dingen für neue rechtliche und tatsächliche Einwendungen offen ist. Natürlich wird es prüfen, in wie weit Vortrag im Plädoyer „neu“ ist und bisherigen Wertungen entgegensteht. Ein Gericht aber, das unbedarft und fernab aller bisherigen Entscheidungen im Verfahren in die endgültige Urteilsberatung geht, kann es nicht geben und dies wird auch weder von der Strafprozessordnung, noch vom Grundgesetz, noch von der Europäischen Menschenrechtskonvention verlangt. Erst wenn man Richter durch Computer ersetzt, könnte man alle Tatsachen und rechtlichen Vorgaben eingeben, dann den Reset-Knopf drücken und den Computer so tun lassen, als müsste er nunmehr – unabhängig von allen früheren Entscheidungen – alles noch einmal neu prüfen.

Das ist natürlich für Verteidiger oft frustrierend. Für Mandanten erscheint oft das Plädoyer als Höhepunkt. Tatsächlich weiß aber jeder erfahrene Verteidiger: Was Du nicht in der Beweisaufnahme (an Zweifeln) gesät hast, kannst Du im Plädoyer nicht ernten.

Es handelt sich dabei im Übrigen nicht allein um ein Phänomen aus dem Strafverfahren. In jedem Zivilverfahren oder auch Verwaltungsverfahren wird man von einem (gut vorbereiteten) Richter dessen „vorläufige Wertung“ hören. Nach meiner Erfahrung liegen die Fälle, in denen das Gericht später von dieser Wertung abweicht, unter 5% (solange sich die Tatsachengrundlage nicht ändert).

Eberhard Reinecke