Alles NUR Indizien? – Aus Anlass des 100. Verhandlungstages

Zum 100. Verhandlungstag im NSU-Verfahren, der am 1.4.2014 statfand,  wurden Zwischenbilanzen gezogen, auch mein Kollege Schön und ich haben dies für den Berliner Tagesspiegel getan. Ich möchte stattdessen heute etwas zum Kampfbegriff „Indizienprozess“ schreiben. So soll es bereits grundsätzlich ein Makel sein, wenn sich  ein Verfahren oder irgend ein Urteil sich ausschließlich „auf Indizien“ stützt; damit sollen sofort Zweifel an einer Verurteilung gesät werden. Es wird so getan, als wären in Indizienprozessen Fehlurteile besonders häufig, was allerdings wissenschaftlich nicht erwiesen ist. Natürlich ist auch das NSU-Verfahren ein „Indizienprozess“.

 Dabei sind Indizien zunächst einmal nichts anderes als Hilfstatsachen, die einen Rückschluss auf andere Tatsachen zulassen. Wird in der Wohnung der Fingerabdruck einer Person gefunden, so lässt dies zwingend den Schluss zu, dass diese Person in der Wohnung gewesen ist. Dieser Rückschluss ist im Übrigen deutlich zwingender und sicherer als die Angaben eines Zeugen, der meint, eine solche Person beim Aufschließen der Wohnungstür gesehen zu haben. Wird allerdings der Fingerabdruck z.b. an einer Getränkeflasche in der Wohnung gefunden, so bleibt die Möglichkeit, dass die Flasche nach dem Berühren von einem Dritten in die Wohnung verbracht wurde.

Im Gegensatz zu Indizien ständen dann – wenn überhaupt – nur Beweismittel zum unmittelbaren Tathergang, wofür – wenn nicht gerade Filme existieren – eigentlich nur Zeugen in Betracht kommen. Dass nun aber auch Zeugenaussagen zum unmittelbaren Tathergang nicht zuverlässig sind, ist durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Experimente bewiesen. Was also bleibt? Das Geständnis des oder der Angeklagten. Und in der Tat, in der öffentlichen Wahrnehmung ist ein „Indizienprozess“ dadurch gekennzeichnet, dass der Angeklagte kein Geständnis ablegt. Interessanter weise wird der Vorwurf „Indizienprozess“ selbst dort eingesetzt, wo Geständnisse existieren. Noch heute findet man im Netz zum Prozess gegen die Brandstifter von Solingen die Behauptung eines zweifelhaften Urteils auf Grund von Indizien, obwohl einer der Angeklagten die Tat in allen Einzelheiten und mit allen Tätern gestanden hatte und erst am 80. Verhandlungstag sein Geständnis widerrief.

 „TATORT“ Syndrome

 Woher kommt die Sucht nach dem Geständnis? Man könnte das Ganze als „TATORT-Syndrom“ bezeichnen, wobei „TATORT“ nur für einen x-beliebigen Krimi steht. Völlig realitätsfern endet fast jeder Film damit, dass der durch die überlegene Technik und Intelligenz der Kommissare (innen) Überführte (gelegentlich durchaus mit nicht StPO-konformen Methoden) ein Geständnis ablegt und haarklein erzählt, wie es ganz genau gewesen ist.

 Wann hätte man schon jemals einen TATORT gesehen, in dem der Täter bis zur letzten Minute bestreitet oder schweigt und die Zuschauer trotzdem den Eindruck haben, hier hätte die Polizei nun den Richtigen festgenommen. Das aber ist genau häufig juristische Realität. Der Angeklagte schweigt oder bestreitet sogar die Tat, er wird anschließend verurteilt, weil nach Auffassung des Gerichtes die Beweismittel ausreichen oder seine eigene Tatschilderung eine „reine Schutzbehaup­tung“ war. Nun werden sicherlich auch in deutschen Gerichtssälen eine Vielzahl von Strafurteilen auf Grund von Geständnissen gesprochen aber Verurteilungen gegen die Einlassung des Angeklagten sind keine exostische Rarität. In den allerwenigsten Fällen gewinnen dabei Zuschauer dann auch den Eindruck, dass ein Fehlurteil vorliegt.

 Dass Kriminalfilme mit einem Geständnis enden müssen, hat mit einem anderen Element des „TATORT-Syndroms“ zu tun, das sich ebenfalls nicht besonders positiv auf die Prozessbericht­erstattung auswirkt: es muss mindestens bis 5 Minuten vor Ende des Krimis spannend bleiben. Je mehr Verdächtige es gibt, desto verwirrender der Krimi, desto überraschender die Auflösung und desto weniger könnte der Zuschauer allein den Worten der Kommissare vertrauen, wenn diese behaupten, der immer noch leugnende Beschuldige sei mit Sicherheit der Täter. Was Sonntagabend eine nette Unterhaltung sein kann (meine Lieblingskommissare oute ich hier lieber nicht), ist für die Prozessberichterstattung aus dem wirklichen Leben durchaus problematisch: die Tendenz, die Spannung bis zur Urteilsverkündung hoch zu halten, fördert Prozessberichte, die gerne den Blick fürs Ganze verlieren und sich an einzelnen Beweismitteln festhalten, um dem staunenden Publikum mitzuteilen, dass eigentlich noch alles offen ist.

 Zurück zum Hexenprozess?

 Dabei ist die Sucht nach dem Geständnis Mittelalter, die Überführung von Tätern anhand von Indizien steht für Aufklärung und Naturwissenschaft. Es gab mal Zeiten, in denen war das Geständnis das einzige und alleinige Beweismittel. Dies gilt insbesondere für die Hexenprozesse. Was nützte es, wenn Zeugen aus der Nachbarschaft berichten konnten, dass eine Frau mit dem Herrn mit Pferdefuß getanzt hatte oder wie sie am 30. April den Abflug Richtung Brocken auf einem Besen beobachtet hatten. Mochte dies auch durch noch so viele Zeugen bestätigt werden, der wirkliche Beweis war erst dann geführt, wenn die Delinquentin ein Geständnis abgelegt hat. Dass dieses dann mit äußerst unfeinen Methoden herbeigeführt werden musste und herbeigeführt wurde, ist ebenfalls bekannt. Es ist aber selbstverständlich: je stärker im Bewusstsein verankert ist, dass „ein Geständnis her muss“, desto eher können unzulässige Vernehmungsme­thoden um sich greifen. Dass auch Gerichte und Staatsanwälte sich regelmäßig wohler fühlen, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat (und zwar selbst dann, wenn dies im Rahmen eines Deals abgegeben und evtl. sogar falsch war), ist ebenfalls bekannt. Honoré de Balzac lässt in „Glanz und Elend der Kurtisanen“ einen Staatsanwalt sagen:

 „Dieser Bursche ist verurteilt worden, und er hat nichts gestanden! Seit siebzig Tagen wehrt er sich gegen alle Beweise, indem er seine Unschuld beteuert. Seit zwei Monaten trage ich zwei Köpfe auf den Schultern! Oh, ich würde sein Geständnis mit einem Jahr meines Lebens bezahlen, denn man muß die Geschworenen beruhigen!“

Die Lösung des Gerichtes von starren Beweisregeln oder Bindung an bestimmte Beweismittel und die Ersetzung durch Notwendigkeit einer „freien Beweiswürdigung“ ist mit Sicherheit ein wesentlicher Fortschritt, der der Aufklärung zu verdanken ist. Und in diesem Zusammenhang gewinnen Indizien eine wesentliche Bedeutung. Es entspricht naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, wenn unter bestimmten Umständen bereits eine einzige DNA-Spur ausreichen kann, damit das Gericht sich eine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten bildet. Regelmäßig allerdings wird es gerade das Zusammenspiel unterschiedlicher Indizien sein, das die gerichtliche Überzeugung prägen sollte. Wenn es zu Fehlurteilen kommt, so liegt dies regelmäßig nicht daran, dass die Verurteilung „nur“ auf Indizien beruht, sondern es liegt daran, dass der oder die Menschen, die die Indizien zu bewerten und einzuordnen haben, zu falschen Ergebnissen gekommen sind (was im übrigen auch passieren kann, wenn die Aussagen unmittelbarer Tatzeugen zu bewerten sind). Richter können Zeugenaussagen oder Sachbeweise sowohl einzeln wie insbesondere in ihrem Zusammenspiel falsch würdigen. Davon aber werde ich in einer Fortsetzung schreiben und auch von Indizien im NSU-Verfahren. Vorerst halten wir einmal fest: Wenn ein Prozess „Indizienprozess“ ist, sagt das nichts darüber aus, wie tragfähig ein Urteil ist.

Eberhard Reinecke