Am 27.11.2014 veröffentlichten 30 NebenklagevertreterInnen sowie die Initiative „Keupstrasse ist überall“ einen offenen Brief an den ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily, den wir im folgenden dokumentieren und mit einigen Anmerkungen versehen:
Offener Brief an den ehemaligen Bundesinnenminister Otto Schily
Sehr geehrter Herr Bundesminister a.D. Schily,
mit Empörung haben die Initiative „Keupstraße ist überall“ und die unterzeichnenden Nebenklagevertreter im NSU-Verfahren die von Ihnen erwirkte „Klarstellung“ im Kölner Stadt-Anzeiger vom 10.11.2014 zur Kenntnis genommen.
Dort heißt es unter anderem:
„Herr Schily weist zu Recht darauf hin, dass er seinerzeit ein rechtsextremistisches Motiv nicht ausgeschlossen, sondern zum Sachverhalt lediglich Folgendes erklärt hat: „Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu. Aber die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, sodass ich eine abschließende Beurteilung dieser Ereignisse jetzt nicht vornehmen kann.“ Herr Schily weist ferner mit Recht darauf hin, dass den Sicherheitsbehörden zum damaligen Zeitpunkt die Existenz einer terroristischen rechtsradikalen Gruppe nicht bekannt war und dass sich daher der Ausdruck ,,terroristischer Hintergrund“ in seiner Erklärung eindeutig ausschließlich auf den ,,islamistischen Terrorismus“ bezogen hat.“
Die in der „Klarstellung“ gegenüber dem Stadtanzeiger nicht kommentierte Behauptung, die „Erkenntnisse … [der] Sicherheitsbehörden … deuten auf ein kriminelles Milieu“ hin, war damals falsch und ist es heute. Dementsprechend waren Sie als Zeuge vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss am 15.3.2013 auch nicht in der Lage mitzuteilen, worin diese „Erkenntnisse“ bestanden haben sollen. Richtig ist vielmehr, dass die Sicherheitsbehörden ohne tatsächliche Grundlage und auf Weisung „von oben“ unterstellten, dass gegen Migranten gerichtete Straftaten ihre Ursache nur im sogenannten kriminellen Milieu haben könnten. Gerade weil es keinerlei Hinweise auf einen solchen kriminellen Hintergrund gab, hätte sich den Ermittlungsbehörden eine rechtsterroristische Tat schon zum damaligen Zeitpunkt aufdrängen müssen. Auch das nordrhein-westfälische LKA bezeichnete den Anschlag zunächst als „terroristische Gewaltkriminalität“, bevor dieser Begriff auf Anweisung aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen wurde. Auch das wissen Sie.
Uns entsetzt Ihr ganz neuer Rechtfertigungsversuch, Ihr damaliges Bestreiten eines terroristischen Hintergrundes habe nicht dem Rechtsterrorismus gegolten, sondern es sei „eindeutig ausschließlich der islamistische Terrorismus“ gemeint gewesen. Eine solche „Erklärung“ haben Sie nicht einmal im Bundestagsuntersuchungsausschuss abgegeben. Diese widerspricht auch Ihrer eigenen Aussage im Rahmen einer Pressekonferenz vom April 2012, wonach Ihre damalige Einschätzung ein „schwerwiegender Irrtum“ gewesen sei.
Es ist ein billiger Trick, wenn Sie aufgrund der aktuellen Medienpräsenz des islamistischen Terrorismus versuchen so zu tun, als sei der Rechtsterrorismus in Deutschland erst mit dem NSU aufgetreten und Terrorismus ansonsten stets islamistisch. Das widerspricht sogar den damaligen Erkenntnissen des Ihnen unterstellten Bundesamtes für Verfassungsschutz, welches immerhin eine eigene Abteilung Rechtsterrorismus unterhielt. Sie perpetuieren jenen Rassismus, unter dem die Opfer des NSU schon viel zu lange gelitten haben, um sich selbst und die deutschen Sicherheitsbehörden von jedem Fehlverhalten rein zu waschen. Sie beweisen, dass Sie trotz der Erkenntnisse diverser Untersuchungsausschüsse und der anhaltenden öffentlichen Debatten nichts gelernt haben.
Die von Ihnen 2012 erklärte Übernahme politischer Verantwortung setzt voraus, dass Sie einsehen, was Sie mit Ihrer durch nichts gerechtfertigten öffentlichen Erklärung vom 10.06.2004 in Gang gesetzt haben. Sie tragen eine erhebliche politische Mitverantwortung dafür, dass von den Ermittlungsbehörden anschließend Hinweise auf rechtsextreme Täter unbeachtet blieben, dass selbst als bereits bekannt war, dass der Bombenleger vermutlich kein Migrant war, verdeckte Ermittler in der Keupstraße eingesetzt wurden, um herauszufinden, welche Migranten den Täter beauftragt hätten. Anwohner, die den Verdacht eines rechtsradikalen Hintergrundes äußerten, wurden von Polizeibeamten zum Schweigen verpflichtet. Es ist überfällig, dass Sie ohne Wenn und Aber zu Ihrer Rolle im NSU-Skandal stehen.
Rechtsanwalt Alkan, Rechtsanwältin Basay-Yildiz, Rechtsanwalt Prof. Behnke,
Rechtsanwalt Bogazkaya, Rechtsanwältin Clemm, Rechtsanwalt Dr. Daimagüler
Rechtsanwalt Dr. Elberling, Rechtsanwalt Erdal, Rechtsanwalt Fresenius, Rechtsanwältin
Hartmann, Rechtsanwalt Heising, Rechtsanwalt Hoffmann, Rechtsanwalt Ilius, Rechtsanwalt Kara, Rechtsanwältin Kerdi-Elvan, Rechtsanwalt Kolloge, Rechtsanwalt Kuhn, Rechtsanwältin Lex,
Rechtsanwältin Lunnebach, Rechtsanwalt Narin, Rechtsanwalt Parlayan, Rechtsanwalt Rabe,
Rechtsanwalt Reinecke, Rechtsanwalt Sariyar, Rechtsanwalt Scharmer, Rechtsanwalt Schön
Rechtsanwalt Sfatkidis, Rechtsanwalt Sidiropoulus, Rechtsanwalt Dr. Stolle, Rechtsanwalt Ünlücay.
Ergänzende Hinweise: Hier die Orginaläusserung in der Tagesschau (ab Sek. 35) mit dem überheblichen Gestus, hier die Äusserung von Schily vor dem Untersuchungsausschuss (60. Sitzung anklicken, S. 25). Wer sich über den Kampf von Schily gegen rechts mit statistischen Tricks informieren wil kann das hier sehen, und hier lesen. Es gibt heute (29.11.) bereits eine erste Reaktion von Otto Schily im Tagesspiegel. Dort erklärt er erneut:
Er selbst habe damals „überhaupt keine Bewertung des Sachverhalts vorgenommen“. Und dafür will sich Schily nicht auch noch beschimpfen lassen – „hätte ich denn die Information, die ich seinerzeit von den Sicherheitsbehörden bekommen hatte, den Journalisten vorenthalten sollen?“
Hat er immer noch nicht kapiert, dass es solche Informationen nicht gab. Bisher hat sich noch niemand in den „Sicherheitsbehörden“ gefunden, der erklärt hat, dass er Schily diese Information gegeben habe. Und in der Tat, die Behauptung über das „kriminelle Millieu“ hätte er den Journalisten vorenthalten sollen, weil sie ohne jede Substanz war und durch nichts unterlegt werden konnte.
Eberhard Reinecke