Rückruf der Missbrauchstudie durch Kölner Erzbischof

oder: Wenn Juristen historische Wahrheiten überprüfen

Seit Anfang des Jahres tobt ein Kampf um die Veröffentlichung einer Studie, die vom Kölner Erzbischof bei einer sicherlich nicht kirchenfernen Anwaltskanzlei in München in Auftrag gegeben wurde. Wie nunmehr LTO meldet, ist die Studie endgültig zurückgezogen. Beurteilt wurde dies – so LTO – durch zwei Strafrechtler und durch die Kanzlei Höcker/Köln und Rechtsanwalt Lehr aus der Kanzlei Redeker, Bonn. Da hat man nicht etwa den Bock zum Gärtner gemacht, sondern – um in christlichen Metaphern zu bleiben – gleich den Wolf zum Hirten.

Beide Kanzleien sehen eine wesentliche Aufgabe darin, die Veröffentlichung von Skandalen insbesondere dabei eine personalisierte Berichterstattung mit Namensnennung zu unterbinden. Die Kanzlei Höcker hat sich dafür sogar die Bezeichnung „Höcker-Rufwächter“ als Wortmarke beim Patentamt schützen lassen.    (Wir erinnern: früher reichten als Rufwächter Gemeindemitglieder mit der Ermahnung an die Kinder: „Über den Herrn Pfarrer sagt man sowas nicht“, heute müssen nunmehr offenbar Anwälte herangezogen werden.)

Dass diese Vorkämpfer gegen eine personalisierte Berichterstattung von Skandalen und Fehlverhalten zum Ergebnis kommen, dass durch die Studie Persönlichkeitsrechte der dort namentlich Genannten verletzt werden, verwundert niemanden, die die Arbeit dieser Büros kennt.

Wer will eigentlich klagen?

Aber auch ein Strafrechtler meldet sich in der Katholischen Sonntagszeitung zu Wort (daraus auch die weiteren Zitate):

„Das Gutachten ist nicht gerichtsfest“, sagte der Frankfurter Strafrechtler Matthias Jahn vor Journalisten in Köln und: „Die namentliche Erwähnung von Verantwortungsträgern könne zudem bei Mängeln zivilrechtliche Klagen nach sich ziehen.“

Die ganze Diskussion verwundert deswegen umso mehr, weil es keinen gesellschaftlichen oder gar staatlichen Anspruch darauf gibt, dass eine vom Bistum veröffentlichte Studie „gerichtsfest“ zu sein hat (was das auch immer ist). Eine gerichtliche Auseinandersetzung in diesem Zusammenhang könnte nur von den kirchlichen Würdenträgern angezettelt werden, die in der Studie namentlich genannt sind. Wir erinnern daran, dass jahrzehntelang die katholische Kirche so getan hat, als sei der Missbrauch ein innerkirchliches Problem, bei dem der Staat nicht einzugreifen habe. Wo bleibt denn jetzt die Anweisung von Kardinälen oder des Papstes an die kirchlichen Würdenträger, dass diese gefälligst keine Klage gegen ihre eigene Kirche und deren Missbrauchsstudie anzustrengen hätten. Warum riskiert die katholische Kirche nicht die Veröffentlichung, wie von der ausarbeitenden Kanzlei empfohlen.

Da wäre es doch interessant zu sehen, welcher kirchliche Würdenträger sich tatsächlich traut gegen die Studie zu klagen. Genauso interessant wäre sicherlich, wenn dann in Rahmen eines solchen Verfahrens die ohne Zweifel von der Anwaltskanzlei geprüften Unterlagen zum Gegenstand öffentlicher gerichtlicher Auseinandersetzungen gemacht werden.

Welchen Inhalt soll die Studie haben?

Die Münchener Kanzlei Westphal-Spilker-Wastl verteidigt Ihre Studie:

Die Kanzlei Westphal-Spilker-Wastl wies die Vorwürfe zurück. Die vom Erzbistum Köln beauftragte Stellungnahme Jahns und des Erlanger Kriminologen Franz Streng zu ihrer Untersuchung leide selbst unter einem grundlegenden methodischen Fehler: „Der uns im Dezember 2018 erteilte Auftrag bestand in einer umfassenden Bewertung des Handelns der Bistumsverantwortlichen.“ Eine Beschränkung auf die bloße Rechtmäßigkeitskontrolle sei gerade nicht vorgesehen gewesen: „Einen derartig beschränkten Gutachterauftrag hätte die Sozietät auch abgelehnt.“

Angeblich will der neue Gutachter Gehrke eine für das Erzbistum „ungemütliche Studie“ erstellen:

Sein Team aus fünf Anwälten und wissenschaftlichen Mitarbeitern werde jeden einzelnen der insgesamt 312 Verdachtsfälle würdigen. Seine Kanzlei sei im Oktober vom Erzbistum beauftragt worden und ihr seien dazu die 189 auszuwertenden Personalakten und 236 Interventionsakten zugestellt worden. Es gebe 243 Beschuldigte und 386 von sexueller Gewalt Betroffene.

Man erkennt sofort den Unterschied, während es der bisherigen Studie (nicht nur) um strafrechtliche Verantwortung ging, sondern allgemein um Fehlverhalten, sollen nunmehr die Einzelfälle – wahrscheinlich nach den Maßstäben eines Gerichtsverfahrens – beurteilt werden. Wenn dann auch noch der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ angewandt wird, werden nicht nur kaum Einzelfälle festgestellt werden, sondern noch viel weniger eine Verantwortung der Institution. Und das ist Herrn Wölki sicherlich ganz recht.

Die Aufklärung der historischen Wahrheit darf durch Juristen nicht behindert werden

Die Auseinandersetzung um die Studie berührt grundsätzliche Fragen. Ich hatte früher schon einmal ausgeführt, wie anmaßend der Anspruch der Juristen ist, historische Forschung zu überprüfen und zur Not zu unterbinden.

In der Tat verlangt der Bundesgerichtshof bei einer Berichterstattung über Strafverfahren die Berücksichtigung der Unschuldsvermutung. Nachdem die Kirche allerdings jahrzehntelang die Missbrauchstäter in den eigenen Reihen gedeckt hat und der Strafverfolgung entzogen hat (vergleiche dazu auch die früheren Beiträge zur Beschlagnahme von Kirchenarchiven und zur Strafanzeige gegen Missbrauchstäter) dürfte es sich in den allermeisten Fällen in der Missbrauchsstudie um Vorfälle handeln, die nicht mehr gerichtlich im Rahmen eines Strafverfahrens überprüft werden können. Geht es nun nach „Rufwächtern“ so soll darüber auch nicht mehr unabhängig von Strafverfahren, also als historische Wahrheit berichtet werden können.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes entfällt die Möglichkeit der Berufung auf die Unschuldsvermutung spätestens dann, wenn die Schuld im Strafverfahren festgestellt worden. Kann das nicht mehr geschehen – weil kein Verfahren mehr geführt werden kann – heißt es natürlich nicht, dass darüber nicht mehr berichtet werden darf. Natürlich müssen die Tatsachen stimmen, aber allein die Namensnennung verletzt zumindest höhere Würdenträger nicht in ihrem Persönlichkeitsrecht.

Die Missbrauchsstudie wäre ein gutes Testfeld gewesen, um einmal grundsätzlich klären zu lassen, wann über schwerwiegendes Fehlverhalten berichtet werden darf, selbst wenn kein Strafverfahren mehr möglich ist und selbst wenn dieses Fehlverhalten auch in früheren Zeiten keinen Straftatbestand erfüllt hätte. Nach der der oben zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofes dürfte eine Namensnennung bei Sexualtaten gegen Minderjährige ohne weiteres zulässig sein, wenn es sich um Verantwortungsträger in der Kirche handelt, die dies als Täter zu verantworten haben, oder die gegen ihnen bekannte Täter nicht eingeschritten sind. Auch ansonsten ist die Möglichkeit der Namensnennung keineswegs so eingeschränkt wie das Büro Höcker es gerne hätte, wie wir anlässlich einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hier auch schon mal ausgeführt hatten.

Dass aber kein Würdenträger für sich im Moment das auch bei Rufwächtern so beliebte „Recht auf Vergessen“ reklamieren kann (selbst wenn die Vorgänge selbst Jahrzehnte zurückliegen), ergibt sich schon daraus, dass zunächst einmal ein Fehlverhalten öffentlich diskutiert und festgestellt werden muss. Frühestens dann kann die Zeit beginnen, in der auch ein Vergessen irgendwann verlangt werden kann.

Eberhard Reinecke

Update 22.1.2021:

Eine Fortsetzung zu diesem Artikel gibt es hier.