Staatsräson

„Das Existenzrecht Israels und die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“ wird in letzter Zeit versichert. Der Botschafter Israels in Deutschland hält die Enthaltung Deutschlands bei der Resolution der UN-Vollversammlung für einen Verstoß gegen die „Staatsräson“.

Da taucht natürlich die Frage auf: Was ist eigentlich „Staatsräson“ und welche Auswirkungen hat es, wenn etwas zur „Staatsräson“ erklärt wird. Nicht nur im Grundgesetz, sondern auch in allen anderen Gesetzen sucht man vergeblich nach dem Begriff „Staatsräson“ oder gar einer Definition oder einer Regelung, welche Rechten und Pflichten sich ergeben, wenn irgendetwas Staatsräson sei. Wenn es schon keine juristische Definition gibt, kann man natürlich auch unabhängig davon nach der Bedeutung dieses Begriffes fragen. Unverdächtig dürfte hier die Bundeszentrale für politische Bildung sein, bei der wir zum Begriff Staatsräson unter anderem folgendes finden:

Das Prinzip der Staatsräson (der Begriff kommt aus dem Lateinischen: „ratio status“ heißt „Staatsvernunft“) hatte in früheren Jahrhunderten, als noch Könige und Fürsten über die Staaten herrschten, große Bedeutung. Es besagte, dass die Interessen des Staates über alle anderen Interessen gestellt wurden. Wenn die Staatsmacht der Ansicht war, dass es dem Interesse des Staates dienen würde, konnten Gesetze aufgehoben und sogar die Rechte der einzelnen Menschen missachtet werden. Der Staat stand über allem.

Natürlich sind diese vordemokratischen Regelungen heute nicht aktuell, für heute heißt es bei der Bundeszentrale:

In demokratischen Staaten spielt die Staatsräson, wie sie hier beschrieben ist, keine Rolle mehr. In den letzten Jahren haben Terroristen immer wieder versucht, durch Geiselnahmen oder Flugzeugentführungen Staaten zu erpressen. Dann sagen viele Menschen: „Die Staatsräson verlangt, auf die Forderungen nicht einzugehen, weil ein Staat nicht erpressbar sein darf.“ Damit ist gemeint, dass es nicht sein darf, dass einzelne Gewalttäter einen Staat zwingen können, Dinge zu tun, die gegen die Gesetze sind.

Das passt nun aber nicht so richtig, auf die Benutzung des Begriffes in der jetzigen Diskussion sondern erinnert eher an Helmut Schmidt, der wegen der „Staatsräson“ von vornherein einen Austausch von Schleyer gegen Gefangene der RAF ablehnte.

„Staatsräson“ nach der Verfassung

Zweifellos kann allein ein Begriff, dessen rechtliche Voraussetzungen und Konsequenzen nirgendwo definiert sind, weder Pflichten noch Rechte auslösen. Sollte tatsächlich nach besonders bedeutsamen und unseren Staat prägende Regeln gesucht werden, so wird man die am ehesten in Art. 79 Abs.3 des Grundgesetzes finden, der definiert, welche Regelungen im Grundgesetz nicht verändert werden dürfen. Dort heißt es:

Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Unabänderlich ist daher die Achtung der Würde des Menschen (Art 1 GG) auf der einen Seite, wie aber auch der demokratische und soziale Bundesstaat und die Bindung an Recht und Gesetz. Das wäre wohl am ehesten „Staatsräson“.

Existenzrecht Israels verfassungsrechtlich geschützt

Allerdings hat auch ohne die Staatsräson zu bemühen, das Existenzrecht Israels Verfassungsrang. Zu den weniger bekannten Artikeln des Grundgesetzes gehört Art. 25, in dem es heißt:

Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.

Verfassungsrang haben dementsprechend die Grundsätze des Völkerrechtes zu denen natürlich das Recht auf territoriale Integrität eines Landes wie auch sein Recht auf Selbstverteidigung gegen eine Terrororganisation wie die Hamas gehören. Allerdings ist das Völkerrecht keine Einbahnstraße, d. h. zu den Grundsätzen des Völkerrechtes, die durch die Regierung zu wahren ist, gehört auch das Verbot kollektiver Strafen, wie sie im Moment in Gaza praktiziert wird, oder auch offensichtlich unverhältnismäßige Tötungen von Zivilisten, wie Sie ebenfalls zur Zeit im Gaza stattfinden.

Antonio Guterres hat Recht

Antonio Guterres hat in seiner Erklärung vor der UNO die schlichte völkerrechtliche Situation zutreffend dargestellt, wenn Israel ihn deswegen auch zum Rücktritt aufgefordert hat  Natürlich kann sich jeder sein Völkerrecht selbst zusammenbasteln und eine überstaatliche Durchsetzung ist nicht möglich – anders als im innerstaatlichen Bereich, wo zur Not die Polizei hilft, Urteile durchzusetzen. Wer allerdings, wie die jetzige Bundesregierung, eine wertebasierte auf dem Völkerrecht beruhende Außenpolitik betreiben will, kann über die von Guterres angesprochenen Verletzungen des Völkerrechtes durch Israel nicht hinweggehen. Im Prinzip verbindlich für die Exekutive in der Bundesrepublik Deutschland sind Entscheidungen des europäischen Gerichtshofes, der sich 2019 eindeutig zu den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland positioniert hat. Es ging zwar zunächst nur um die Frage, wie Waren, die aus diesen besetzten Gebieten kommen und Waren, die in dort existierenden Siedlungen von Israelis hergestellt werden, zu deklarieren sind. Der Gerichtshof hat seine Entscheidung aber gerade auch aus der völkerrechtlichen Situation abgeleitet und schreibt dazu folgendes:

Beim Westjordanland handelt es sich nämlich um ein Gebiet, dessen Bevölkerung, das palästinensische Volk, das Recht auf Selbstbestimmung hat, wie der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten vom 9. Juli 2004 „Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory“ (Rechtsfolgen des Baus einer Mauer auf besetztem palästinensischem Gebiet, I.C.J. Reports 2004, S. 136, Rn. 118 und 149) festgestellt hat. Die Golanhöhen sind Teil des Hoheitsgebiets eines anderen Staates als des Staates Israel, nämlich der Arabischen Republik Syrien. ….

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Siedlungen, die in bestimmten vom Staat Israel besetzten Gebieten errichtet wurden, dadurch gekennzeichnet sind, dass sich darin eine Umsiedlungspolitik manifestiert, die dieser Staat, wie vom Internationalen Gerichtshof in Bezug auf die besetzten palästinensischen Gebiete in seinem Gutachten vom 9. Juli 2004, „Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory“ (I.C.J. Reports 2004, S. 136, Rn. 120), festgestellt, außerhalb seines Hoheitsgebiets unter Verstoß gegen die in Art. 49 Abs. 6 des am 12. August 1949 in Genf unterzeichneten Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (United Nations Treaty Series, Bd. 75, Nr. 973, S. 287) kodifizierten Regeln des allgemeinen humanitären Völkerrechts umsetzt. Diese Siedlungspolitik wurde außerdem wiederholt vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wie vom Generalanwalt in den Nrn. 53 und 54 seiner Schlussanträge ausgeführt, und von der Europäischen Union selbst verurteilt. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Union gemäß Art. 3 Abs. 5 EUV einen Beitrag zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen leistet.

Auch der Bundesregierung ist diese Rechtslage bekannt, sie mahnt zwar gelegentlich die Einhaltung an, ohne daraus aber Konsequenzen zu ziehen. Resümee:. Ohne eine „Staatsräson“ zu bemühen, ist das Existenzrecht Israels grundgesetzlich geschützt. Die Überhöhung zu einer „Staatsräson“ geht tendenziell wieder in die vordemokratischen Nutzung dieses Begriffes zurück, d. h. in Versuche bestimmte Positionen über das Recht zu stellen oder auch zu versuchen im Hinblick auf die Staatsräson die nach Art. 25 GG gebotene Kritik an Verstößen gegen das Völkerrecht im Fall Israel einmal fünfe gerade sein zu lassen. Streichen wir also den Begriff Staatsräson aus der politischen Diskussion oder erklären wir offen, welche zusätzlichen Rechte/Pflichten sich daraus ergeben könnten.

Eberhard Reinecke