Mit freundlicher Genehmigung des Kollegen Langer dokumentieren wir sein Plädoyer in zwei Teilen. Teil 1 zum NSU Mord in Rostock, der akribisch den Ablauf nachzeichnet und auch die Ermittlungen der Polizei. RA Langer hat Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Frau Zschäpe eventuell selbst an der unmittelbaren Tatausführung beteiligt war.Das Plädoyer fand positive Resonanz in der Presse (Süddeutsche und SPIEGEL-Online). Teil 2 befasst sich mit einzelnen Aspekten von Aussagen der Angeklagten Zschäpe und weiteren Aspekten der Ceska-Serie. (RA Langer selbst hat in seinem Plädoyer die Angeklagten und die verstorbenen Täter abgekürzt: BZ=Beate Zschäpe, UM=Uwe Mundlos, UB=Uwe Böhnhardt, RW=Ralf Wohleben, AE = André Eminger, HG = Holger Gerlach, CS = Carsten Schulze. Andere Abkürzungen sind von mir im Rahmen der Veröffentlichung vorgenommen worden. E.Reinecke)
Hoher Senat,
werte Verfahrensbeteiligte,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin Nebenklägervertreter von Cihan und Fatma Turgut. Sie sind Schwestern des am 25. Februar 2004 in Rostock ermordeten Mehmet Turgut, der das fünfte Opfer der Ceska-Mordserie war. (RA Langer weist zunächst darauf hin, dass der richtige Name des Getöteten Mehmet Turgut und nicht Yunus Turgut lautet (wie in der Anklage) Dieser Teil wird hier nicht abgedruckt.)
Mein Schlußvortrag umfaßt zwei Teile. Zuerst soll es um den Mordfall in Rostock gehen, die Auswahl von Tatort und Tatopfer, der Tatablauf, die Ermittlungen und die Auswirkungen auf die Familie. Weiter nehme ich dann zu einigen allgemeinen Aspekten des Verfahrens Stellung und komme schließlich zu ausgewählten Punkten, die Angeklagten betreffend, die einen Bezug zur Ceska-Mordserie aufweisen. Es geht dabei um Einschätzungen, die mir wichtig erscheinen und die bei den bisherigen Schlußvorträgen entweder keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielten oder solche, die sich aus meiner Sicht etwas anders darstellen.
A. Warum Rostock? Warum Mehmet Turgut? Wer war Mehmet Turgut?
Es wurde in den bisherigen Schlußvorträgen bereits einiges dazu gesagt, wie schwierig es im Rahmen der Aufklärung war, zu ermitteln, wonach die Tatorte und die Tatopfer von den Mördern ausgewählt wurden. Diese Fragen sind Hauptfragen der Hinterbliebenen der Opfer der kaltblütigen Morde. Während die GBA mit großem Aufwand ermittelt hat und die Taten gerichtsfest machte, blieben diese Fragen weitgehend ungeklärt. Dies auch nicht zuletzt wegen des beharrlichen Schweigens BZs, das nur durchbrochen wurde von dürren, zurechtgezimmerten Erklärungen, alles vorsichtig entlangtastend an dem, was ohnehin bereits aufgedeckt worden war oder BZ vorteilhaft erschien.
1. Zuerst zur Frage: Warum Rostock-Toitenwinkel?
a) Die Auswahl Rostocks als Tatort ist aus meiner Sicht im Vergleich zu den anderen Tatorten der Ceska-Mordserie eine Besonderheit. Während die acht anderen Tatorte im ehemaligen Westen Deutschlands liegen, ist mit Rostock der einzige Tatort eines Mordes im ehemaligen Ostteil Deutschlands zu verzeichnen. Ich gehe davon aus, daß dies kein Zufall ist. Kein Zufall wie bei den anderen Tatorten der Mordserie. Während die anderen Mordtaten zwar auch nach einem relativen Zufallsprinzip geschahen, wurden dafür im ehemaligen Westteil liegende Städte offenbar gezielt deshalb ausgewählt, weil es dort jeweils eine größere türkische Gemeinschaft gab. Dann wurden diese Städte zielgerichtet aufgesucht und zunächst „lohnende Objekte“ ausgespäht, was im Verlaufe des Verfahrens mit umfassenden Kartenausschnitten mit entsprechenden Anmerkungen UBs/UMs und mit Objektlisten dokumentiert wurde. Anders Rostock. Zunächst muß herausgestellt werden: Der Tatort Rostock-Toitenwinkel, Neudierkower Weg 2, ist selbst für in Rostock Wohnende weit abgelegen.
Der Zeuge KOK Minx sagte hier am 49. HVT (23.10.2013) aus:
„Ich bin als Einheimischer noch nie an diesem Ort gewesen, der ist so was von abgelegen. Nur wer da wohnt, kommt da vorbei.“ Und: „Das sind auch Überlegungen, die wir angestellt haben: Was sucht jemand hier? Wir hatten keine Erklärung dafür.“ (aaO.).
Es gab weder in diesem Stadtbezirk, noch aber auch bezogen auf ganz Rostock im Jahr 2004 eine größere türkische Gemeinschaft. In Rostock gab es 2004 bei knapp 200.000 Einwohnern gerade einmal 6.745 Ausländer und nur 260 Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit (so das Statistische Jahrbuch der Hansestadt Rostock 2005). Diese Gruppe der türkischen Staatsangehörigen bildete im zahlenmäßigen Bezug auf Einzelgruppen von Ausländern in Rostock eine völlig untergeordnete Anzahl. Selbst wenn noch einige weitere Personen mit türkischem Migrationshintergrund hinzugerechnet würden, die nicht in dieser Statistik verzeichnet waren, weil sie einen deutschen Paß hatten oder sich ungemeldet aufhielten, handelte es sich dabei um einen verschwindend kleinen Teil, der es noch nicht einmal in den Promillebereich schaffte – überhaupt nicht vergleichbar mit den anderen Tatortstädten der rassistisch motivierten Ceska-Morde: Nürnberg, München, Hamburg, Dortmund, Kassel.
Zwar gab es auch zu Rostock Ausspähdaten, wie bereits OStAin Greger bemerkte, jedoch paßten diese nicht ansatzweise zum späteren Tatort und enthielten überdies auch keinen Bezug zu türkischen Geschäften oder Einrichtungen. Diese Ausspähdaten auf Karten oder Ausdrucken betrafen ersichtlich Banken und Sparkassen, auch räumlich weit entfernt vom Stadtteil Rostock-Toitenwinkel. Dies bestätigte am 46. HVT (15.10.2013) der Zeuge KOK Glock, der Kartenmaterial und Adreßlisten ausgewertet hat. Auch stammten die Map-&-Route-Kartenausdrucke zu Rostock offenkundig erst aus dem Jahre 2006, also zwei Jahre nach dem Mord an Mehmet Turgut (Ass. 2.9.23.3; Vermerk vom 10.12.2011, SAO 305, Bl. 305 ff.).
MV ist das einzige Bundesland, in dem der NSU Menschen ermordete und auch Banküberfälle beging (hier: Rostock, Ceska-Mord am 25.02.2004 und Stralsund, Überfälle auf die Sparkassenfiliale, Kleine Parower Straße 51 – 53 am 07.11.2006 und 18.01.2007).
b) Selbst aus Sicht rassistischer Neonazis, die ihre Morde für den „Erhalt der deutschen Nation“ vornahmen (so im sog. Bekennervideo – z. B. in der Vorgängerversion vom 28.10.2001, SAO 597, Bl. 200) und die das Ziel hatten, türkische Gemeinschaften in Deutschland durch willkürliche Morde zu verunsichern, – selbst aus deren Sicht würde man nicht vom abstrakten Landesteil- oder Stadtplanstudium her auf Rostock- Toitenwinkel kommen. Hier gibt es offensichtlich einen anderen Bezug, das persönliche Wissen um den Tatort aus früherer Zeit von mindestens einer der drei untergetauchten Personen, die das NSU-Trio bildeten. Eine(r) oder mehrere der Drei hat/haben den Dönerimbiß von früher her persönlich wahrgenommen und die dortige Gegend aus eigener Wahrnehmung gekannt. Den Dönerimbiß gab es dort seit Beginn der 1990er Jahre, wie es sich aus einem Befragungsprotokoll vom 17.03.2004 entnehmen läßt, in dem zwei Stammgäste befragt wurden, die diesen Imbiß regelmäßig („mindestens viermal wöchentlich“ bzw. „eigentlich täglich“) seit 1990 besuchten (Altakte Turgut, Bd. I, Bl. 152, 156 ff., 159 ff.). Mindestens eine(r) der Drei ist in seinem/ihrem Leben vor dem Untertauchen (1998) bereits an diesem Ort gewesen und erinnerte sich daran, daß dort ein Dönerimbiß stand, betrieben von türkischstämmig aussehenden Menschen. Dieser am Rande eines Plattenbauviertels freistehende und vereinzelte Dönerimbiß muß als so prägnant störend empfunden worden sein, daß die drei Mitglieder des NSU dafür sogar Abweichungen von der sonstigen Art der relativen Zufallsauswahl ihrer Opfer in Städten mit großen türkischen Gemeinschaften in Kauf nahmen.
c) Maßgeblich für einen persönlichen Bezug erscheinen mir hier zwei Aspekte:
aa) Zum einen hatte UB dorthin einen verwandtschaftlichen Bezug. In Rostock-Toitenwinkel in der Pablo-Picasso-Straße 1 (knapp 1 km vom Tatort entfernt) wohnte seit 1991 seine Cousine (S. M.), die er dort auch besucht hat. Seine Mutter, die Zeugin Brigitte Böhnhardt, sagte hier am 58. HVT (20.11.2013) etwas naiv aus, ihre Nichte habe „das böse Pech“ gehabt, in Rostock ausgerechnet in dem Stadtteil gewohnt zu haben, „wo der Mord stattgefunden“ hat. Die Familie Böhnhardt ist früher auf dem Weg in den Urlaub auch mal bei ihrer Nichte vorbeigefahren. Aus meiner Sicht handelt es sich hier weniger um „böses Pech“, als vielmehr um eine Schnittstelle zum späteren Tatort.
bb) Zum anderen wohnte seit März/April 1994 bis Ende der 1990er Jahre eine Person im unmittelbarem Umfeld des späteren Tatortes, die auf der hier eingesehenen, am 26.01.1998 sichergestellten sog. Garagenliste (Ass. 59.52.3.1) von UM notiert worden war. Der Ausschnitt auf der Garagenliste zu dieser damals in Rostock lebenden Person lautet:
Rostock1 Wismarsche Str. 60 M. H. 0381 / ….
Rostock Mar. & Mar. 0381 / ….
Rostock M. H. Wohn. 0381 / …
Diese Person – damaliger Name: M. H. – räumte in einer Vernehmung beim BKA ein, mit allen dreien (UB/UM/BZ) 1994/95 in Rostock Silvester gefeiert zu haben. Daß die Drei seine Wohnung in der Pablo-Neruda-Straße aufgesucht haben, hielt er für „durchaus möglich“ (ZV M. B., geb. H. vom 30.10.2012, SAO N 05). Leider war die (einzige) Vernehmung des Zeugen B./H. durch das BKA nicht besonders genau. Zwar wurde er nach seiner früheren Wohnung in der Pablo-Neruda-Straße gefragt (SAO N 05, Aussage vom 30.10.2012, Bl. 2), allerdings nicht einmal nach der Hausnummer. Andererseits liegt der GBA die Angabe dazu aus der Personalakte des Bundesverteidigungsministeriums vor. Danach handelt es sich um die Haus- Nr. 14. Die damalige Freundin des M. H., die in der Garagenliste vermerkte Mar. (von keiner Behörde bislang befragt) war mit geringem Aufwand zu ermitteln. Soweit allerdings in den Medien teilweise berichtet wurde, diese Person habe zeitweise bei der Landtagsfraktion der NPD im MV gearbeitet, ist dies meiner Erkenntnis nach unzutreffend und beruht auf einer Namensähnlichkeit. In einem Telefonat bestätigte die auf der Garagenliste stehende Mar. diese Hausnummer und daß es sich um die Wohnung im 1. oder 2. Stock handelte und diese Wohnung Fenster nach vorn und nach hinten hatte. Wenn man nach vorn vom Fenster der Wohnung linkerhand heraussieht, sieht man in nur 230 m Entfernung direkt den späteren Tatort! Diese Freundin wohnte nach eigener Aussage selbst im Jahre 1996 einige Zeit in dieser Wohnung in der Pablo-Neruda-Straße 14 und konnte auf Vorhalt auch die Telefonnummer der Garagenliste unter „…..“ bestätigen. Sie kannte UB/UM/BZ auch persönlich und war auch bei der gemeinsamen Silvesterfeier 1994/95 mit dabei. Bei einer gründlichen Auswertung der sog. Garagenliste hätte sich über den Rückbezug der Telefonnummer bei den Ermittlungsmöglichkeiten der Kriminalpolizei die dazugehörige Wohnung schnell ermitteln lassen. Wäre ein rechtsextremes Mordmotiv nicht gleich ausgeschlossen worden, hätte zumindest die Möglichkeit bestanden, diese Schnittstelle zu erkennen: untergetauchtes rechtsextremes Trio mit Kennverhältnis zu Personen in unmittelbarer Tatortnähe. Ich spreche ausdrücklich nur von einer M ö g l i c h k e i t . Es ist schwer, konkret zu adressieren, wer diesen Bezug hätte herstellen sollen. Die Ermittler in MV kannten die sog. Garagenliste damals nicht und die Thüringer Ermittler hatten diese damals tief in den Akten belassen. Es hätte sicher aus deren Sicht großer Anstrengung bedurft, einen Bezug zur Mordserie herzustellen. Allerdings hätte es sich gelohnt, die Garagenliste intensiv auszuwerten. Daher halte ich es für eine reale Möglichkeit, wenn man all die Untersuchungsrichtungen sieht, die tatsächlich eingeschlagen wurden und von denen auch nicht alle unbedingt naheliegend waren. Über die erwähnte Rostocker Silvesterfeier 1994/95, an der UB/UM/BZ und auch die auf der Garagenliste vermerkten Personen M. und Mar. teilnahmen, berichtete auch der Zeuge Tom T. am 213. HVT (07.10.2015). Ihm wurden dazu auch Fotos zu diesem Personenkreis in einer Rostocker Wohnung vorgelegt (Beigezogene Akte der StA Gera, Az.: 114 Js 20864/96, Bd. 1, Bl. 62 ff.).
cc) Hinzu kommt, wer von dem Wohngebiet mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Innenstadt wollte, tat dies mit der Straßenbahnlinie Nr. 1. Auf dem Weg zur nächstgelegenen Haltestelle kam man am späteren Tatort, dem Dönerimbiß, vorbei. Dies bestätigte auch der Zeuge KOK Minx am 49. HVT (23.10.2013). Auch dies legte nahe, daß es sich eher um Täter handeln würde, die bereits irgendeinen konkreten Bezug zu dieser Gegend hatten.
dd) Somit ist es für mich sehr naheliegend, daß mindestens eine(r) der Drei – wahrscheinlich aber alle drei – den Tatort in Rostock-Toitenwinkel aus e i g e n e r früherer Wahrnehmung kannte(n).
ee) Zu dieser Thematik hatte ich umfangreich konkrete Fragen an BZ gerichtet (295. HVT, 06.07.2016, Frageliste RA Langer, unter A. 7. und B. 3.). BZ könnte deutlich Licht ins Dunkel bringen, dazu war sie bisher nicht bereit. Ihre Aussagen zu den Ceska-Mordtaten sind weitgehend abstrakte Beschreibungen bei völliger Detailarmut oder die völlige Verweigerung von Antworten.
d) Auffällig anders – im Vergleich zu den übrigen Ceska-Mordtaten – ist das Fehlen jeglicher Ausschnitte aus Zeitungen zu diesem Ereignis. Weder wurden solche in der Frühlingsstraße 26 gefunden, noch sind solche im sog. Bekennervideo verarbeitet. Dies bestätigte hier der Zeuge KHK Grimm am 42. HVT (02.10.2013; Vermerk vom 28.03.2012, SAO 142, Bl. 228, 231 unten). Die dort im Video in der Schlußfassung (Paulchen- Panther-Fassung) unter der sog. „Deutschlandtour“ zum fünften Mord neben dem Foto von Mehmet Turgut eingestellte Zeitungsüberschrift „Rätsel um Morde“ entstammt – offenbar in Ermangelung einer „passenden“ Berichterstattung zum Rostocker Mord – einem Artikel der „Nürnberger Nachrichten“ vom 10.11.2001 zu den ersten vier Mordopfern (Ass. 2.12.377.50 – Der Untertitel: „Bereits vier Bluttaten bekannt“ ist im sog. Bekennervideo derart abgedeckt, daß nur das Wort „Bluttaten“ sichtbar ist.). Das Fehlen von Zeitungsartikeln in diesem Fall ist jedoch erklärbar. Zum einen werden die Täter nicht den nächsten Tag in Rostock abgewartet haben, da sie nach Chemnitz zurückfuhren, weil das unter dem Namen HG angemietete Wohnmobil wieder abgegeben werden mußte. Eine „Ostsee Zeitung“ oder sonstige Zeitung mit einem Rostocker Lokalteil war offenbar in Zwickau nicht zu erlangen, anders als etwa Kölner, Nürnberger, Hamburger oder Münchner Zeitungen. Außerdem berichtete die Lokalpresse in Rostock am Folgetag weitgehend, daß es sich bei der Tatwaffe um ein Messer gehandelt hätte bzw. Schläge die Todesursache gewesen wären. Solche Überschriften bzw. Artikel hätten aus Sicht der Täter nicht den Zusammenhang zur Ceska- Mordserie hergestellt und wären somit nicht zweckgerichtet verwendbar gewesen (etwa: „Bild“ vom 26.02.2004: „Messer-Mord in der Dönerbude“, „Ostsee Zeitung“ vom 26.02.2004: „25-jähriger Türke starb nach brutalen Schlägen“; alle in Altakte Turgut, Bd. I, nach Bl. 415 „Presse“).
e) Weiterhin gab es Besonderheiten im konkreten Ablauf der Mordtat. Es ist der einzige Fall, der in einem Wintermonat stattfand. Es ist der einzige Fall der neun Morde, bei dem nicht der Geschäftsinhaber selbst getötet wurde. Und während in den anderen Fällen der Ceska-Mordserie UB/UM dem jeweils in seinem Geschäft stehenden Opfer sofort in den Kopf schossen, ergibt sich am Tatort in Rostock ein deutlich davon abweichendes Bild. Offensichtlich wurde Mehmet Turgut (sehr wahrscheinlich unter Vorhalt einer Schußwaffe) zunächst gezwungen, sich vollständig auf den Boden zu legen. Dort wurde er dann kaltblütig mit drei Schüssen hingerichtet, wobei ein weiterer Schuß das Opfer verfehlte. Denn es gab hier keinerlei Blutspuren in Kopfhöhe. Der am Tatort eingetroffene Zeuge KOK Minx sagte hier am 49. HVT (23.10.2013): „Drei Einschüsse im Boden, … liegen eng beieinander. … Auffällig war, daß Blut nur auf dem Fußboden war.“ Es wurde angesichts zweier Besprechungen zwischen dem LKA MV und den beiden Obduzenten Prof. Dr. Wegener und Dr. Zack vom 22.02. und 21.03.2007 festgehalten, daß aus Sicht der beiden Gerichtsmediziner „die wahrscheinlichste Variante“ ist, daß „alle vier Schüsse auf das liegende bzw. sich in bodennaher Position befindliche Opfer von dem darüberstehenden Täter abgegeben wurden“. Dafür spräche „das enge Trefferbild (alle vier im Kopfbereich)“ und „das Fehlen von Blutspuren in Kopfhöhe bzw. im Bereich der waagerechten Flächen (Verkaufs- und Zubereitungstisch)“, die bei einem stehenden Opfer „in diesen Bereichen zu erwarten gewesen“ wären (Altakte Turgut, Bd. V, Bl. 202). Prof. Dr. Wegener wurde hier auch am 32. HVT (06.08.2013) gehört. Eine konkrete Erklärung für diese Abweichungen im Modus Operandi könnte allein BZ mitteilen.
f) Einige Worte zur kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit in Rostock:
aa) Die Ermittlungsarbeit der Rostocker Kriminalpolizei war davon geprägt, daß sie zwar sehr intensiv und von einem deutlichen Aufklärungswillen getragen war, aber letztlich schon ganz zu Beginn ein bedeutender Ermittlungsbereich ausgeklammert wurde. Wie wir heute wissen, der entscheidende. Dabei neige ich nicht dazu, deshalb den Rostocker Ermittlern im einzelnen Rassismus vorzuwerfen oder gar einen solchen institutionalisiert zu sehen. Mit großem Aufwand wurden Spuren verfolgt, so wurden nahezu alle Hotel-/Beherbergungsbuchungen in Rostock und Umgebung überprüft, dazu Fähr- und Flugpassagierdaten, Verkehrsunfalldaten, Einwohnermeldedaten, um Schnittstellen zu finden (vgl. BT-UA, Bericht DS 17/14600, S. 594, re. Spalte). Es wurden ferner Daten von Personen ausgewertet, die innerhalb dreier Tage vor dem Mord in Rostock in einen Verkehrsunfall verwickelt waren. Es wurden später auch noch sämtliche Meldedaten über Zu- und Wegzüge zwischen Rostock und den anderen Tatortstädten der Ceska-Mordserie zwischen 1960 und 2007 ermittelt und ausgewertet, schließlich auch Funkzellen- und Telefondaten (Altakte Turgut, Abgabebericht LKA MV vom 10.01.2012, S. 14 ff.). Dies alles ist nur ein kleiner Ausschnitt der umfangreichen Ermittlungsmaßnahmen. Es wurden auch umfangreiche Ermittlungen im Umfeld des Opfers und des Imbißbetreibers geführt. Die Ermittlungen gingen schon sehr an die Grenzen des Erträglichen für Haydar Ay., den Inhaber des Dönerimbisses, in dem Mehmet Turgut mit ausgeholfen hatte, als er ermordet wurde. Er sagte hier am 49. HVT (23.10.2013) aus, daß er sich wie ein Angeklagter behandelt fühlte, da er stundenlangen Verhören unterzogen wurde. Wegen des schrecklichen Ereignisses konnte er sein Geschäft an der dortigen Stelle nicht mehr weiterführen. Der Imbißcontainer wurde am 28.08.2007 vollständig abgebaut (Vermerk LKA MV, AA Turgut, Band 5, Bl. 274).
bb) Bedauerlicherweise wurde schon früh die Ermittlungsrichtung rechter bzw. fremdenfeindlicher Hintergrund eingestellt, ohne daß dies plausibel erläutert werden konnte. Der Zeuge KHK Scharen, Ermittlungsleiter in Rostock, hatte nur eine Woche nach der Tat einen Vorschlag für eine Veröffentlichung in türkischen Printmedien gemacht und dabei festgehalten: „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen werden.“ (Vermerk vom 04.03.2004, Altakte Turgut, Bd. I, nach Bl. 396, Presse). Auf entsprechenden Vorhalt sagte er hier am 49. HVT (23.10.2013) aus, daß man davon ausgegangen sei, weil Staatsanwaltschaft, Staatsschutz, LKA, LfV MV in mündlichen Besprechungen nichts in dieser Richtung geäußert hätten. Diese Begründung ist fraglich, da diese Stellen offenkundig kurz nach der Tat in keine Richtung im Sinne einer Motivforschung etwas hätten unterstreichen oder ausschließen können. Daher war das Ausklammern einer wesentlichen Richtung – hier: ein fremdenfeindlicher Hintergrund der Tat – im Sinne kriminalistischen Denkens nicht angezeigt. Auch ist der gesamten Altakte Turgut nicht zu entnehmen, welcher Mitarbeiter der vorgenannten Behörden – Staatsanwaltschaft, Staatsschutz, LKA, LfV MV – konkret auf welche Unterlagen oder Informationen zurückgegriffen hat, um eine Bewertung zur Frage eines fremdenfeindlichen Hintergrunds vornehmen zu können. Weiter ist zu beachten, daß das Ergebnis der Untersuchung zu der gefundenen Munition, mit der Mehmet Turgut umgebracht wurde, schon zwei Wochen nach dem Mord, am 11.03.2004, vorlag (Sachstandbericht vom 24.03.2004, Altakte Turgut, Bd. II, 212 ff., 225). Dieses Ergebnis zeigte auf, daß bereits vier türkischstämmige Geschäftsleute mit derselben Waffe ermordet worden waren. Spätestens jetzt hätten die Ermittlungen nochmals neu durchdacht werden müssen. Da zum damaligen Zeitpunkt alle fünf Opfer türkischstämmig waren, konnte doch jedenfalls jetzt die erneute ergebnisoffene Prüfung nicht dazu führen, daß ein fremdenfeindliches Motiv von vornherein ausgeschlossen werden konnte. Auch der Verfügung der StA Rostock, etwa fünf Wochen nach dem Mord, vom 01.04.2004 (Altakte Turgut, Bd. II, Bl. 276, 277), also noch sehr zu Beginn der Ermittlungen, zeigt, daß hier eine fehlerhafte Weichenstellung erfolgte, die dann nicht mehr korrigiert wurde. Es heißt dort:
„Auch bei dem hier vorliegenden Mord gibt es keine Anhaltspunkte auf eine Raubstraftat, ein politisches bzw. religiöses Motiv bzw. hinreichende Hinweise auf eine mögliche Beziehungstat (z.B. Blutrache) … ; dafür liegen aber Hinweise auf eine international operierende Rauschgiftbande vor.“
Es ist aus der Altakte Turgut jedoch nicht erkennbar, auf welche Art „international operierende Rauschgiftbande“ sich hier bezogen wird. Auch gab es insbesondere keine Rauschgiftbezüge zum ermordeten Mehmet Turgut oder zum Imbißbetreiber Haydar Ay.. Bei den Ermittlungen hätte jedoch beachtet werden sollen, daß der Imbißkiosk am 17.09.1998 ausgebrannt ist und ein Mitarbeiter der Feuerwehr Brandstiftung vermutete. Circa 3 Monate zuvor gab es am 13.06.1998 direkt vor dem Imbißcontainer eine Prügelattacke auf den Inhaber von vier konkret festgestellten Personen, gegen die auch aktenkundig ermittelt wurde. Diese Attacke hätte durchaus Ihren Ausgangspunkt in einer fremdenfeindlichen Motivation gehabt haben können. Dies läßt sich einem Schreiben des Rechtsanwaltes des damalig Geschädigten und hier gehörten Zeugen Haydar Ay. vom 02.05.2001 entnehmen. Darin zitiert er u. a. die Aussage eines Zeugen aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Rostock wie folgt:
„… der Kioskbetreiber, Herr Ay. sprach die vier [Personen] … an und meinte in seinem gebrochenen Deutsch, daß er die Kioskfläche gemietet hätte und die Gäste nicht ihre mitgebrachten Getränke dort trinken sollten. Dies sollten diese vier doch woanders tun. Herr Ay. blieb dabei höflich. Daraufhin antwortete der Älteste von den Vieren … : ´Du hast uns nichts zu sagen. Du bist ja noch nicht einmal ein Deutscher´ … Aufgrund der dumpfen ´Schläge´, die ich vernommen hatte, begab ich mich um den Kiosk herum und sah, daß dieser Ältere von den Vieren auf Herrn Ay. ca. zwei- bis dreimal mit der Faust in sein Gesicht schlug. Als ich in Richtung der Schläge gegangen war, folgte mir gleichzeitig einer der beiden Jüngeren dieser Viermanngruppe. Dieser mischte sich jetzt in die Auseinandersetzung zwischen Herrn Ay. und dem Älteren ein und schlug mit der Faust ca. drei- bis viermal zu. … Herr Ay. blutete aus der Nase und ein bißchen aus dem Ohr. …“
Merkwürdigerweise waren diese Vorgänge bei der in MV im Juni 2006 gegründeten Soko „Kormoran“ in der Abteilung „Finanzermittlungen“ abgelegt (LKA MV Abt. 4 Soko Kormoran, StA Rostock, Az.: 433 Js 5559/04). Ich habe in Karlsruhe bei der GBA die nicht zu diesem Verfahren beigezogenen Akten der Rostocker Ermittlungen eingesehen und bin dabei u. a. auf das vorzitierte Schreiben des damaligen Rechtsanwaltes des Imbißbetreibers gestoßen. Mein Antrag an die GBA, mir entsprechende – konkret bezeichnete – Auszüge aus diesen Akten zuzusenden, die Ausgangspunkt für weitere eigene Recherchen hätten sein sollen, wurde leider abschlägig beschieden. Unabhängig davon, ob Ermittlungen zu diesem Ereignis zu UB/UM/BZ geführt hätten, das Beispiel zeigt, daß ein Ansatz für Nachforschungen in Richtung fremdenfeindlicher Hintergrund gegeben war, jedenfalls durfte ein solcher nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
2. Nun komme ich zur Frage: Warum Mehmet Turgut?
a) Daß nun konkret Mehmet Turgut am 25.02.2004 das Opfer des Mordtrios geworden ist, liegt aus meiner Sicht an einem zufälligen Umstand, den ein Außenstehender nicht kennen konnte. Einen Tag zuvor versprach Mehmet Turgut dem Betreiber Haydar Ay., am Tattag früh den Kiosk vorzubereiten, denn der Betreiber würde selbst etwas später kommen, weil er am Vormittag des 25.02.2004 noch Einkäufe für den Imbiß im Großmarkt tätigen wollte. Der Zeuge Haydar Ay. gab hier am 49. HVT (23.10.2013) an, daß er normalerweise den Imbiß ganz allein betrieben hat. Dieser Umstand war auch der Rostocker Kriminalpolizei bekannt. Sie folgerte, daß sich möglicherweise die Tat gegen den Betreiber Haydar Ay. gerichtet haben könnte, der ja sehr kurzfristig und nicht vorhersehbar zum Tatzeitpunkt am Tatort abwesend war. Aus der Tatsache, daß demnach dann der kurzfristig „vertretungshalber“ anwesende Mehmet Turgut ermordet wurde, hat man eine Verwechslung in Betracht gezogen. Diese war aber angesichts der offenkundigen Unterschiede der Personen Haydar Ay. und Mehmet Turgut ausgeschlossen. Ersterer war untersetzt und kräftig, letzterer war sehr schlank und sportlich. Haydar Ay. war auch 19 Jahre älter – somit konnte eine Verwechslung ausgeschlossen werden. Es gab auch die These, die Tötung des Mitarbeiters des Betreibers hätte ein – so wörtlich – „Druckmittel“ gegen den Betreiber sein können (Sachstandsbericht vom 24.03.2004, Altakte Turgut, Bd. II, 212 ff., 230). Dies ist aber schon nach kurzer Überlegung fernliegend. Wenn ein Serienmörder bisher vier türkischstämmige Geschäftsleute umgebracht hat und sich dann zum Geschäftsort des fünften begibt und nicht wissen kann, daß hier gerade der Inhaber abwesend ist, für diesen nur jemand kurzfristig aushilft, dann ist es doch abwegig, daß der Täter jetzt sein Motiv wechselt und nicht den Geschäftsmann selbst umbringen will, sondern den Mitarbeiter, um Druck auf den Geschäftsmann auszuüben. Dies könnte bei einem Einzelfall noch nachvollziehbar erscheinen, aber doch nicht bei einer Serie. Hier konnte also leicht erkannt werden, daß es dem Täter eben prinzipiell nicht darauf ankam, wer gerade im Geschäft arbeitete. Dadurch hätte man leicht darauf kommen können, daß sich die Mordserie nicht gegen die konkret ausgewählten Geschäftsleute richtete. Dem kam die Kriminalpolizei auch schon sehr nahe, wenn im selben Sachstandbericht (aaO.) vermerkt wird:
„In Wertung aller bisherigen Erkenntnisse ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit am ehesten davon auszugehen, daß Haydar AY. getötet werden sollte und Yunus TURGUT ein sogenanntes ´Zufallsopfer´ ist.“
Nun hätte man sich doch nur die Frage stellen müssen, warum wählt der Täter Geschäftsorte aus, richtet seine Morde aber gerade nicht unbedingt gegen den Geschäftsinhaber, sondern gegen den, den er gerade dort antrifft. Insbesondere wenn – wie hier – ein so kurzfristiger Personenwechsel stattfand, daß der Täter dies nicht wissen konnte. Angesichts der Tatsache, daß auch die ersten vier Opfer einen türkischstämmigen Hintergrund hatten und hier ein erkennbares Zufallsopfer mit demselben Merkmal gegeben war, wäre es zur These eines fremdenfeindlichen Motivs kein sehr weiter Weg. Es soll noch darauf verwiesen werden, daß der Betreiber Haydar Ay. gegenüber einem türkischen Polizisten, der in die Ermittlungen eingebunden war und zu dem er Vertrauen hatte, umfassend mit diesem über das mögliche Motiv gesprochen hat. Er schloß dabei aus, daß es sich gegen ihn als Person oder als Inhaber des Geschäfts gerichtet haben könnte, da er leicht erreichbar gewesen wäre. Er vermutete vielmehr, daß – so wörtlich – „ein kranker Deutscher“ die Tat begangen habe (Vermerk vom 27.04.2007, Altakte Turgut, Bd. V, 241 ff., 243).
b) Der 25. Februar 2004 war ein naßkalter Wintertag, um 3 Grad Celsius (Altakte Turgut, Abgabebericht LKA MV vom 10.01.2012, S. 4). Zwischen 9:30 Uhr und 10:00 Uhr kochte Mehmet Turgut Kaffee, setzte das Dönerfleisch an und begann, es im Drehspießofen zu erwärmen. Er bediente noch den Zeugen Kel., jemand der öfters den Imbiß aufsuchte und der dort ca. um 10:00 Uhr einen Kaffee trank, und sich dann entfernte, ohne daß ihm etwas Besonderes auffiel, wie er hier am 49. HVT (23.10.2013) bekundete. Um etwa 10:10 Uhr oder einige Minuten später öffnete jemand plötzlich von außen die nicht für Kunden bestimmte seitliche Eingangstür zum Kiosk. Mehmet Turgut blickte in eiskalte Augen und in eine Pistolenmündung, die ihm direkt vor das Gesicht gehalten wurde. Dumpf und bestimmt rief diese Person ihm zu „Runter! Runter! Runter!“ und bedeutete unmißverständlich, daß Mehmet Turgut sich auf den Boden legen sollte, was dieser überrascht und erschrocken auch tat. Dann nahm er noch eine weitere Person wahr, die der ersten zum Verwechseln ähnlich sah. Beide standen jetzt über ihm. Die zweite Person richtete eine mittelgroße Plastiktüte auf ihn, in der sich seine Hand befand. Es ist unklar, ob die beiden Personen selbst überrascht waren, da sie möglicherweise am Vortag oder zu einem anderen Zeitpunkt die Gegend nochmals ausgekundschaftet und eigentlich eine andere Person erwartet hatten. Somit kann es einen kurzen Wortwechsel zwischen diesen beiden Personen gegeben haben, den Mehmet Turgut nicht verstand. Mehmet Turgut wußte nicht, daß diese Personen seinen Tod beschlossen hatten; sein einziger „Fehler“ war, türkisch auszusehen. Zuletzt wandte er – weiter auf dem Boden liegend – sein Gesicht von den beiden etwas ab und hörte noch das metallisch gedämpfte Geräusch des Todes. Denkbar wäre aber auch, daß eine dritte Person, diese zierlicher und kleiner als die anderen beiden, mit zugegen war und die anderen beiden Mehmet Turgut mit Waffengewalt aufforderten, sich hinzulegen, damit diese dritte Person, sichtlich ungeübt im Umgang mit dem Gegenstand in der Plastetüte, Schüsse abgeben konnte. Der erste Schuß verfehlte das Opfer, der zweite traf in den Nacken. Schnell riß einer der ersten beiden der dritten Person die Plastiktüte mit dem Gegenstand aus der Hand, wobei eine Hülse aus dem Plastikbeutel herausfiel und unter dem Kühlschrank landete. Dann gab er selbst noch zwei geübte Schüsse auf Mehmet Turgut ab, die ihn in den Kopf und in den Hals trafen. Danach entfernten sich die Personen schnell. Der ganze Vorgang hat keine fünf Minuten gedauert. Auch das Wohnmobil, das für An- und Abreise genutzt wurde, hätte drei Personen ausreichend Platz geboten. So oder ganz ähnlich müssen die letzten Minuten von Mehmet Turgut verlaufen sein. Auch dazu könnte BZ mit Sicherheit genaue Details benennen, aber sie war bislang nicht bereit, dazu mehr zu sagen, weder von sich aus, noch auf Fragen hierzu. Möglicherweise aus gutem Grund!
3. Wer war Mehmet Turgut?
Für seine Mutter Berivan und seinen Vater Mehmet Hanifi Turgut war er der Stolz: der älteste Sohn; er trug den Namen seines Vaters. Für meine Mandantinnen Cihan und Fatma Turgut war er immer der große Bruder, ebenso wie für die weiteren Nebenkläger Yunus, Mustafa und Ahmet Turgut. Auch Mehmet Turgut liebte seine Familie über alles. Mehmet Turgut war ein guter Sohn und ein beliebter und geschätzter Bruder. Er war liebenswert und lebensfroh, ein ruhiger, nachdenklicher junger Mensch, der ein herzliches Lachen und warme Augen hatte. Er war sportlich, spielte oft und gern Fußball. Er war nach Deutschland gekommen, um hier den Versuch zu machen, sein Glück zu finden. Er träumte davon, später eine Frau kennenzulernen und Kinder zu haben, eine eigene Familie. Schnell erkannte er, daß das Leben in Deutschland für ihn nicht einfach war. Bei Bekannten kam er jeweils kurze Zeit unter. Bei einem Bekannten seines Vaters, dem hier gehörten Zeugen Haydar Ay., half er zuletzt in dessen Dönerimbiß „Mister Kebab Grill“ in Rostock-Toitenwinkel aus. Dies wurde ihm zum Verhängnis. Es war ein furchtbarer Schlag, als die Familie 2004 die Nachricht erhielt, ihr Sohn bzw. Bruder sei im fernen Deutschland wenige Tage vor seinem 27. Geburtstag gestorben. Schlimmer noch: Er wurde nach Art eines Auftragskillers durch zielgerichtete Schüsse in den Kopf hingerichtet. Als Teil einer blutigen Serie. Es war jedoch nicht nur der plötzliche, schreckliche, unfaßbare Verlust, hinzu kam die Frage, die wir hier schon häufig gehört haben: Nach dem W A R U M ? Diese Ungewißheit hielt Jahre lang an. Sie hatte weitere schlimme Folgen für die ganze Familie. Da auch türkische Zeitungen über die weiter fortgesetzte Mordserie und die Art und Weise der Tötungen berichteten, wurden die Eltern und Geschwister im Kreis ihrer Nachbarn und Bekannten mißtrauisch angesehen und hinter der vorgehaltenen Hand kursierten Gerüchte, der Ermordete sei in schwerkriminelle Kreise geraten, andernfalls könne es ja nicht ein solch gewaltsames Ende geben. Es hieß: „So wird sonst ja keiner umgebracht.“ Die Familie litt sehr darunter, daß Nachbarn und Bekannte so etwas von ihrem Sohn bzw. Bruder denken konnten. Die Eltern hielten schließlich diesen Druck nicht mehr aus und zogen aus ihrem Dorf weg, das bis dahin in ihrem gesamten Leben den Mittelpunkt bildete. Als der Vorsitzende den Zeugen Haydar Ay., der die Familie Turgut gut kannte, zu den Folgen der Tat befragte, sagte dieser am 49. HVT (23.10.2013): „Sie haben deshalb viel gelitten und viel geweint.“. Auch der ehemalige Imbißbetreiber Haydar Ay. selbst ist für sein Leben gezeichnet. Er vermochte es nicht mehr, am Ort der Tat seine Geschäftstätigkeit fortzusetzen, so daß der Imbißkiosk erst lange leerstand und schließlich abgebaut wurde. Ihn belastet, daß Mehmet Turgut an seiner Stelle zu Tode kam und er bei Besuchen in der Türkei dem ihm gut bekannten Vater des Opfers gegen übertreten mußte und sich für den Tod des Sohnes Mehmet Turgut – so wörtlich – „irgendwie verantwortlich“ fühlt (Vermerk vom 27.04.2007, Altakte Turgut, Bd. V, 241 ff., 243). Dann kam im November 2011 die teilweise Auflösung, die für alle Familienmitglieder einen weiteren Schock darstellte. Sie konnten es nicht glauben. Ihr Sohn und Bruder Mehmet Turgut wurde nur deshalb ermordet, weil er wegen seiner Herkunft nicht in das Weltbild der Mörder paßte, er wurde völlig willkürlich ausgewählt, nicht als einzelner Mensch, sondern als Stellvertreter einer Gruppe, auf die die Mörder ihren Haß projizierten. Aber wieder wurden keine Einzelheiten bekannt. Hinsichtlich genauer Details zur Planung des Verbrechens und zum genaueren Ablauf der Durchführung läßt BZ die Angehörigen weiter im Dunkeln. Auch wenn sie dies aus prozessualer Sicht zulässigerweise zum Selbstschutz tut, erst ein Garnichts und dann ein taktisch wohldurchdachtes, anwaltlich formuliertes Nichts vorbringt – sie möge sich bewußt sein, damit vertieft sie das Leid der Eltern und Geschwister von Mehmet Turgut. 2014, genau 10 Jahre nach dem furchtbaren Verbrechen, hat die Stadt Rostock an der Stelle des Tatortes eine kleine Erinnerungsstätte errichtet. Zwei versetzt gegenüberstehende helle und sehr schlichte Steinbänke auf gepflastertem Grund geben dem Wunsch Ausdruck, daß Menschen sich offen und ohne Vorurteil mit Respekt und Empathie begegnen sollen. Daran erinnert eine Tafel, die – auf türkisch und deutsch – Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zitiert sowie an Mehmet Turgut und dessen feige Ermordung an dieser Stelle. Der Familie Mehmet Turguts ist es vor allem wichtig, daß ihr Sohn und Bruder nicht nur als anonymer „Bestandteil“ der Ceska-Mordserie in Erinnerung bleibt, sondern als der von ihnen geliebte Mensch!