„Sprechen Sie ein Urteil, das auch vor der Geschichte Bestand hat“

Das Plädoyer von Rechtsanwalt Yavuz Narin

Am 7.2. 2018 wurden die Plädoyers der NebenklägerInnen und ihrer AnwältInnen beendet. Am Ende stand die Plädoyers von Yvonne Boulgaridis und von RA Yavuz Narin als würdige Zusammenfassung vieler vorheriger Plädoyers. Wir freuen uns, dass beide uns erlauben, diese Plädoyers hier zu veröffentlichen. Die Pressereaktion auf die Plädoyers finden sie hier für ZEIT-Online, SPIEGEL-Online,  Süddeutsche und ausführlich in der Freien Presse.

Hoher Senat, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Yvonne, liebe Mandy,
liebe Michalina,

Meine Kolleginnen und Kollegen haben in ihren Schlussvorträgen bereits vieles ausgeführt. Was immer ich jetzt noch sage, es wäre doch unvollständig – genau wie dieser Prozess. Deshalb werde ich mich kurzfassen.

Denn meine Worte könnten nicht annähernd das Leid, die Verdächtigungen und die Demütigungen beschreiben, denen meine Mandantinnen über all die Jahre ausgesetzt waren. Sie könnten auch nicht angemessen schildern, was die Verleumdung ihres Vaters und Ehemanns als vermeintliches Mitglied der organisierten Kriminalität, als vermeintlicher Drogenhändler oder Menschenschmuggler angerichtet haben oder wie sich die stundenlangen Vernehmungen, die frei erfundenen Vorhalte der Polizei und das Gerede der Arbeitskollegen,
Klassenkameraden und Nachbarn anfühlten.

Liebe Yvonne, liebe Mandy, liebe Michalina. Die Welt hatte sich von einem Tag auf den anderen von Euch abgewandt. Und trotz dieser plötzlichen Einsamkeit habt Ihr über all die Jahre immer zu Theo gestanden, habt an ihn geglaubt und habt darauf vertraut, dass eines Tages die Wahrheit ans Licht kommen würde. Ihr habt in jeder Sekunde mehr Rückgrat, Stolz und vor allem mehr Größe bewiesen als alle Angeklagten und alle von plötzlicher Generalamnesie befallenen Zeugen zusammen.

Rückgrat und Größe – das sind die Eigenschaften, die wir während dieses Verfahrens vermisst haben. Sie sind jedoch die Voraussetzung dafür, eigene Fehler einzugestehen, ernsthaft zu bereuen und um Verzeihung zu bitten. Gesehen haben wir hingegen Zeugen, die sich vor ihrer
Verantwortung weg ducken. Menschen ohne Rückgrat, Feiglinge und Schreibtischtäter. Rädchen im Getriebe einer beispiellosen Mordserie, die ihrerseits auf kleingeistigem und ewig gestrigem Gedankengut von selbsternannten Opfern beruht, die sich ernsthaft einbilden, für den
Erhalt der „deutschen Nation“ relevant zu sein.

Heute ist Theo Boulgarides Name rehabilitiert. Heute kann Euer Vater in Frieden ruhen, weil seine Töchter zu wunderbaren Menschen geworden sind. Er kann stolz darauf sein, dass Ihr sogar den Mut, die Kraft und die Größe hattet, Carsten Schultze zu vergeben.

Wir haben nicht nur in diesem Gerichtssaal versucht, Antworten auf eure legitimen Fragen zu finden. Allzu viele Fragen sind offengeblieben. Viele sogenannte „Erklärungen“ sind bis heute nicht plausibel, unzähligen Hinweisen wurde nicht ausreichend nachgegangen. Wir, und ich denke, hier spreche ich im Namen vieler meiner Kolleginnen und Kollegen, haben getan, was wir konnten und doch waren wir in unserer anwaltlichen Funktion nicht in der Lage, mehr
zu bewirken, weil wir keine Strafverfolgungsbehörde sind. Wir konnten von den verantwortlichen Behörden nur einfordern, endlich ihre Arbeit zu tun.

Wir wären glücklich gewesen, wenn das gemäß dem Legalitätsprinzip passiert wäre. Wir wären erleichtert gewesen, wenn wir auf viele unserer Fragen und Beweisanträge hätten verzichten können. Heute können wir nur festhalten, dass längst nicht alles aufgeklärt wurde.
Als die Öffentlichkeit im November 2011 von der Existenz des NSU erfuhr, sagte Yvonne Boulgarides, die ich damals seit einem halben Jahr vertrat und der ich von meiner Hypothese einer mordenden und bombenlegenden Combat-18-Zelle erzählt hatte: „Jetzt wird der Verfassungsschutz Akten vernichten.“

Ich antwortete: „Vielleicht. Aber wenn man ein Loch in eine CD bohrt, kann man immer noch die Musik hören.“

Und so ist es: Heute haben wir die Gewissheit, dass man in der Lage gewesen wäre, die Taten des NSU zu verhindern. Wir haben die Gewissheit, dass wir und dieses Gericht bis zum heutigen Tag von den Verfassungsschutzbehörden belogen werden. Wir haben die Gewissheit, dass zahlreiche V-Personen und Verfassungsschutzmitarbeiter bis heute vor Strafverfolgung geschützt werden. Wir haben also die Gewissheit, dass die lückenhafte Aufklärung der Mentalität von Amtsträgern geschuldet ist, denen nicht klar ist, was unseren Staat, unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung ausmacht. Wir haben die Gewissheit, dass Menschen unsere Verfassung schützen wollen, die den Verfassungskern nicht verstanden haben. Sinnbildlich hierfür ist die Äußerung eines hessischen Verfassungsschutzbeamten, der polizeiliche Aufklärungsbemühungen zum Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme, der sich „zufällig“ am Tatort des Mordes an Halit Yozgat befunden haben will, blockierte und dies folgendermaßen rechtfertigte: „… wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun …“ (…) „… Stellen Sie sich vor, was ein Vertrauensentzug für den Menschen (gemeint ist Andreas Temme) bedeutet …“
Ich frage Sie als Jurist:
Welches Geheimhaltungsinteresse verdient Vorrang vor dem Schutz des Lebens und der Würde der Rechtsunterworfenen?

Worüber wir außerdem Gewissheit haben ist, dass der NSU weitaus mehr Unterstützer in der Nazi-Szene hatte, als die Bundesanwaltschaft uns weismachen will. Wie meine Kollegin Seda Basay bereits darlegte, stützen die bisherigen Erkenntnisse NICHT, dass es keine Unterstützer an den Tatorten gab, sondern genau das Gegenteil.

Schon ein simples Rechenbeispiel könnte die Trio-These der Bundesanwaltschaft widerlegen:

Der Zeuge Gr. von der Berliner Polizei hat in der HV ausgesagt, dass er an der Berliner Synagoge im Mai 2000, also wenige Monate vor dem ersten Mord, neben Beate Zschäpe drei weitere Personen beobachtet hatte, von denen er eine als Uwe Mundlos identifizierte. Bei der anderen männlichen Person handelte es sich höchstwahrscheinlich um Jan Werner. Denn zur selben Zeit liefen gegen den Beschuldigten Jan Werner eine G10-Maßnahme sowie eine Observation des sächsischen Verfassungsschutzes. Im G10-Antrag vom 28. April 2000, also nur eine Woche vor der Synagogenausspähung hatte die Behörde davor gewarnt, dass von dem untergetauchten Trio schwerste Straftaten zu erwarten seien. Ich zitiere aus dem Antrag auf Anordnung der G-10-Maßnahmen:

„Die Unterstützungshandlungen der betroffenen 1-4 (gemeint sind Andreas Graupner, und die anderweitig Verfolgten Thomas Starke, M. St. und Jan Werner) sind ein wesentlicher Anhaltspunkt dafür, dass sie den Zweck der Gruppe mit tragen. – Das Vorgehen der Gruppe ähnelt der Strategie terroristischer Gruppen, die durch Arbeitsteilung einen gemeinsamen Zweck verfolgen.“

Außerdem ging das LfV Sachsen davon aus, dass das Trio sich in Chemnitz aufhalte. Aus dem Vermerk des sächsischen Lfv vom 17. Mai 2000 zur erfolgten G-10-Maßnahme geht hervor, dass Jan Werner am Tag der Ausspähung im Mai 2000 in Berlin war. Jan Werner war der Mann, mit dem der V-Mann Carsten Szcepanski alias Piatto bereits 1998 darüber kommuniziert hatte, dass sich das NSU-Trio bewaffnen wolle, um WEITERE Banküberfälle zu begehen. Ein V-Mann-Führer von Piatto war der Zeuge Gordian Meyer-Plath, heute Präsident des LfV Sachsen. Auf einem Observationsfoto aus Berlin, einige Wochen nach der Synagogen-Ausspähung ist Jan Werner, über den ein BKA-Beamter hier aussagte, er gehe davon aus, dass Jan Werner als V-Mann tätig gewesen sei, mit zwei weiblichen Personen zu sehen. Eine davon, A. W., war, wie wir heute wissen, die Mutter der Kinder des Blood&Honor-Chefs Deutschland, der, wie wir heute ebenfalls wissen, V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz war. Ein weiterer enger Kamerad von Frau W. war M. H., Gründer der sächsischen Hammerskins und ebenfalls V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz.

Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft gab es zu dem Berliner Sachverhalt bis Oktober 2016 – nicht. Als das Gericht infolge meines Beweisantrags zur Synagogenausspähung weitere Ermittlungen zu dem Sachverhalt anordnete, antwortete Gordian Meyer Plath, ehemaliger V-Mann-Führer von Piatto, heute in seiner Funktion als Präsident des LfV Sachsen, mit Schreiben vom 16. Dezember 2016 persönlich, leider seien die G10 Protokolle wie alle „nicht mehr benötigten personenbezogenen Daten“ vernichtet. Warum einzelne SMS-Nachrichten von Jan Werner aus den betreffenden Tagen erhalten sind, wird nicht näher erläutert. Im selben Monat erfuhr man aus dem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags allerdings auch, dass die Bundesanwaltschaft selbst Beweismittel zum Beschuldigten Jan Werner – trotz des Vernichtungsmoratoriums des Bundesinnenministeriums – vernichtet hatte. Die Erklärung lautete, die Bundesanwaltschaft, die das Ermittlungsverfahren gegen Jan Werner führt, habe Jan Werner nicht in Verbindung mit dem NSU gebracht, obwohl dieser wenige Wochen vor der Beweismittelvernichtung als Zeuge – hier – in diesem Saal geladen war.

Frau Zschäpe hingegen war beim Vernichten von Beweismitteln weniger gründlich. Denn in der ausgebrannten Wohnung in der Frühlingstraße wurden Protokolle der Beschuldigtenvernehmung von Jan Werner aus dem von der Bundesanwaltschaft geführten Landser-Verfahren aufgefunden. (Ass.2.12.285) Wie das im Untergrund doch so isolierte Trio an diese Unterlagen vom 17.01.02 gekommen ist, bleibt ein Rätsel.

Worauf ich hinaus will, ist eigentlich nur ein sehr einfaches Rechenbeispiel: An der Ausspähung der Berliner Synagoge im Mai 2000, also wenige Monate vor dem ersten Mord an Enver Simsek, waren beteiligt:

Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, mutmaßlich Jan Werner und eine unbekannte weibliche Person mit 2 Kindern. Wer fehlt, ist Uwe Böhnhardt, der sich an jenem Tag laut LfV Sachsen in Chemnitz aufhielt. Man müsste also buchstäblich nur Eins und Eins zusammenzählen, um die
Trio-These zu verwerfen. Ich glaube, dass jeder in diesem Saal zu dieser mathematischen Leistung fähig ist.

Meine Mandantinnen und ich sind überzeugt, dass es, wie die Geschichte zeigt, nur eine Frage der Zeit ist, bis die fehlenden Puzzlestücke im NSU-Komplex bekannt werden. Denn mit der Wahrheit ist es so eine Sache.  So schreibt Hannah Arendt schon 1963:

„Zwar ist Wahrheit ohnmächtig und wird in unmittelbarem Zusammenprall
mit den bestehenden Mächten und Interessen immer den Kürzeren ziehen,
aber sie hat eine Kraft eigener Art: Es gibt nichts, was sie ersetzen
könnte. Überredungskünste oder auch Gewalt können Wahrheit vernichten,
aber sie können nichts an ihre Stelle setzen. (…)
Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht
ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir
stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.“

Hinsichtlich der hier angeklagten Personen und Taten hat die Bundesanwaltschaft im Übrigen sehr gute Arbeit geleistet, so dass ich mich ihren Ausführungen nur anschließen kann.

Schade nur, dass sie hinsichtlich ihrer mangelhaften Ermittlungsleistungen zu weiteren NSU-Unterstützern süffisant darauf verweisen musste, wir Anwältinnen und Anwälte der Nebenklage hätten unseren Mandantinnen und Mandanten „Hintermänner an den Tatorten“ versprochen. Verehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, das ist nicht wahr. Ich habe meinen Mandantinnen vielmehr erklärt, dass es bereits ein Versprechen gibt. Meine Mandantinnen sitzen hier, weil sie die Einhaltung dieses Versprechens fordern. Des Versprechens, das unseren Staat, unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Es geht ihnen um das Versprechen, das unsere freiheitliche, rechtsstaatliche Demokratie im Kern ausmacht. Das Versprechen, das Leben und die Würde der Rechtsunterworfenen zu achten und zu schützen. Das vornehmste Versprechen, auf dem unsere Verfassung gründet, und auf das wir Juristinnen und Juristen und auch Sie, verehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, vereidigt sind. Ich zitiere das Bundesverfassungsgericht:

„Jedes Menschenleben ist gleich wertvoll, jeder Mensch besitzt die
gleiche Würde. Jeder einzelne hat daher einen Anspruch, dass sich der
Staat schützend vor sein Leben stellt. (…) Das menschliche Leben stellt,
wie nicht näher begründet werden muss, innerhalb der grundgesetzlichen
Ordnung einen Höchstwert dar; es ist die vitale Basis der Menschenwürde
und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte“. (BVerfGE 39,42)

Es ist nicht gelungen, dieses Versprechen gegenüber den Opfern und deren Hinterbliebenen einzuhalten. Worauf aber jeder Mensch in diesem Land einen Anspruch hat, ist, dass die Täter und ihre Helfer so bestraft werden, dass für Rechtsfrieden gesorgt ist. Diese Rechtspflicht ergibt sich nicht nur aus dem Grundgesetz, sondern auch aus dem Völkerrecht: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Hinblick auf das verbürgte Recht auf Leben ein umfassendes Schutzregime ausgearbeitet. Dieses verpflichtet die Mitgliedsstaaten der Konvention zur umgehenden Durchführung von wirksamen, unabhängigen, angemessenen und gründlichen Ermittlungen, die geeignet sind, die Umstände einer Tat zu klären sowie die Schuldigen zu identifizieren und zu bestrafen. Das, verehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, ist das einzige Versprechen, das ich mit meinen Mandantinnen je thematisiert habe.
Hoher Senat, auch ich darf im Namen meiner Mandantinnen an Sie appellieren, unbequem zu sein. Sie sind unabhängig. Hinsichtlich der angeklagten Taten ist durch die Bundesanwaltschaft und durch meine Kolleginnen und Kollegen alles gesagt. Haben Sie den Mut, auch auszusprechen, was dieser Prozess nicht leisten konnte, wo er unvollkommen bleiben musste. Haben Sie den Mut, nicht so zu tun, als sei alles in Ordnung.
Ich bin überzeugt davon, dass dieser Senat ein Urteil fällen wird, das der Revision standhält. Ich darf an Sie appellieren: Sprechen Sie ein Urteil, das auch vor der Geschichte Bestand hat.