„Vorurteile beherrschten die Polizei“ – Teil 1 des Plädoyers von Seda Basay

Mit freundlicher Genehmigung von Rechtsanwältin Basay dokumentieren wir hier ihr Plädoyer im NSUVerfahren. Im ersten Teil befasst sich das Plädoyer mit dem Mord an Enver Şimşek und den polizeilichen Ermittlungen dazu. Präzise, kleinteilig und gerade deshalb anschaulich und erschütternd wird für die Leser an Hand der Vernehmungsprotokolle konkret nachvollziehbar, welche Auswirkungen der Mord und die polizeilichen Ermittlungen auf die Familie hatten. Der zweite Teil geht auf die Einlassung der Angeklagten Zschäpe ein und widerlegt konkret die These der Bundesanwaltschaft von dem abgeschotteten Trio (an diesem Teil hat RA Reinecke unterstützend mitgearbeitet). In der Presse (z.B. SPON, Süddeutsche, Tagesspiegel) fand das Plädoyer und die Worte von Abdulkerim Şimşek grosse Aufmerksamkeit.

Hoher Senat, sehr geehrter Herr Vorsitzender, liebe Adile und lieber Abdulkerim Şimşek, sehr geehrte Damen und Herren der Bundesanwaltschaft und verehrte Anwesende.

Ich halte mein Plädoyer für die gesamte Familie Şimşek und deren anwaltliche Vertreter.

Enver Şimşek war das erste bekannte Mordopfer des NSU.

Ich werde im Folgenden nach den persönlichen Verhältnissen des Verstorbenen, überwiegend die Ermittlungstätigkeit der Polizei und deren Auswirkungen auf die Familie darstellen, die unserer Ansicht nach bei den auf den Mord an Enver Şimşek folgenden Mordtaten nicht anders waren. Damit einher geht eine konkrete Auseinandersetzung mit den Ermittlungen. Ich werde darstellen,  wie drastisch die Ermittlungen gegen die Familie waren und wie Ermittlungsansätze nicht verfolgt wurden, die in die richtige Richtung gingen. Damit werden dann  Diskussionen um die sogenannten „Ermittlungspannen“ sehr konkret. Ich darf darauf hinweisen, dass Familie Şimşek bis heute auf eine Entschuldigung der Polizei Nürnberg wartet. Wahrscheinlich sind diese noch heute der Meinung, dass sie eigentlich nur übliche und ihrer Ansicht nach immer noch richtige Ermittlungsmuster abgearbeitet haben.

Abschließend stelle ich dar, wie gerade die Tatorte in Nürnberg deutlich zeigen, dass es sehr viel wahrscheinlicher ist, dass es Unterstützer und Tipp-Geber vor Ort gab, als wie die Bundesanwaltschaft zu behaupten, das angeblich extrem abgeschottete Trio hätte alles allein ausgespäht. Ich zeige dies anhand der räumlichen Gegebenheiten, der Autoanmietungen des NSU, der Ausspäh-Notizen und den bekannt gewordenen Kontakten zu Nürnberger Neonazis.

Person Enver Şimşek

Enver Şimşek, meine Damen und Herren

wurde am 04.12.1961 in dem Dorf Salur in der Nähe der Stadt ŞARKIKARAAGAC in der türkischen Provinz Isparta geboren. Das Dorf liegt 150 km nordöstlich von Antalya auf einer Höhe von etwa 1200 Metern über dem Meeresspiegel. Nicht allzu weit entfernt von drei großen Seen. Eine wunderschöne Landschaft inmitten von Bergen und Seen. Seine Frau Adile Şimşek und er sind gemeinsam in dem Dorf Salur aufgewachsen. Sie hätten früher im Dorf mit Holz in den Häusern geheizt und ein junger Mann habe Holz gehackt und dies an die Familien im Dorf verteilt, so erzählt es Adile Şimşek. Da sei ihr Enver Şimşek das erste Mal so richtig aufgefallen. Am meisten haben ihr sein Fleiß und seine ruhige Art gefallen. Er konnte alles und hübsch sei er auch gewesen. Und so kam es, dass Enver Şimşek und seine Frau Adile –nachdem sie die Familien informierten-  1979, da war er gerade 18 und sie 16 Jahre alt religiös und 1983 standesamtlich geheiratet haben. Es war eine Liebesheirat, und nicht weil sie sich versprochen oder ähnliches waren. Sie heirateten, weil sie es so wollten.

1985 folgte Enver Şimşek seiner Frau Adile nach Deutschland, die zu ihrem in Deutschland lebenden Vater gegangen war. Die Aussichten im Dorf, was die Arbeitsmöglichkeiten anbelangt, waren schlecht.1986 wurde seine Tochter Semiya und 1987 sein Sohn Abdulkerim Şimşek geboren. Gleich nach seiner Ankunft in Deutschland hat Enver Şimşek angefangen zu arbeiten. Er war kein Mann, der zuhause rumsaß. Er war ein Mann, der anpacken konnte.

Zu Beginn hat Enver Şimşek einige Jahre in einer Fabrik für Autoteile gearbeitet. Er war ein fleißiger Mann. Er hat sich in der Nachtschicht einsetzen lassen, damit er mehr verdienen konnte. Sein Kollege aus seiner Zeit der Fabrik sagte in seiner Zeugenaussage gegenüber der Polizei:

Er war sehr fleißig und sehr schnell und hat auch viele Überstunden gemacht.

Später hat er mit einer Fleischerei angefangen. Dann hat er Gemüse verkauft. 1992 fing Enver Şimşek mit dem Blumenhandel an. Enver Şimşek hat Blumen gemocht und hat diese Leidenschaft zu seinem Beruf gemacht.Zunächst hatte er in Würzburg einen mobilen Blumenstand. Er kaufte von einem Blumenhändler die Blumen und verkaufte sie an den Wochenenden an diesem Stand weiter.

Er war ein Mann, der immer alles selber machen wollte.  Er war sehr ehrgeizig. Nicht umsonst hatte er seine Eltern und seine Geschwister und sein geliebtes Dorf hinter sich gelassen. Er wollte etwas aus seinem Leben machen. Und so kam es, dass er später anfing die Blumen in Holland auf dem Markt selbst einzukaufen.Er begleitete dafür einen Blumenhändler an eine Blumenbörse, damit er das selbst auch lernen konnte. Anschließend nahm er ein Darlehen auf und kaufte sich einen LKW mit einem Kühler. Er fuhr –nachdem er gelernt hatte- wie das alles ablief- montags abends immer selbst nach Holland, um in der Nacht bzw. in den frühen Morgenstunden in einem großen Blumenmarkt mitzubieten. Er hat sodann eine große Lagerhalle in Schlüchtern angemietet und hat die in Holland gekauften Blumen dort zu Sträußen binden lassen. Später hat er zusätzlich ein Blumengeschäft in Schlüchtern betrieben.  Er hat dann die in seinem Lager gefertigten Blumensträuße an Verkaufsstände geliefert,  aber er war auch selber vor Ort an seinen Blumenständen in Nürnberg und Würzburg. Seine Frau und er selbst haben an den mobilen Blumenständen zumeist samstags und sonntags verkauft. Dies ging so über Jahre. Es war eine 7 Tage Arbeitswoche.

Auch wenn er an den mobilen Blumenständen seit Anfang/Mitte 1999 nicht mehr persönlich verkaufte und auch Mitarbeiter hatte, so war er doch derjenige, der einkaufte, die Sträuße lieferte, alles organisierte – und an den Blumenständen aushalf, wenn seine Angestellten im Urlaub oder krank  waren. Es wurde körperlich für ihn und seine Frau immer anstrengender. Für privates blieb kaum noch Zeit. Er hatte ein inniges Verhältnis zu seinen Kindern. Er wollte mehr Zeit mit ihnen verbringen. Seine Frau Adile Şimşek erzählt, dass er nie streng zu seinen Kindern sein konnte. Er konnte ihnen einfach keine Grenzen setzen. Wenn es darum ging ihnen etwas zu verbieten, dann sollte dies immer seine Frau tun. Beide Kinder waren, weil die Eltern viel arbeiteten in Internaten untergebracht.

So fasste Enver Şimşek im Jahre 2000 die Absicht den Blumenhandel in Deutschland langsam aufzugeben und mit seiner Familie in die Türkei zurückzukehren.  Er wollte in seine Heimat zurück. Ein einfaches Haus hatte er für sich und seine Familie in dem Dorf gebaut, wo er geboren und aufgewachsen war, mit Blick auf die Berge in einer wunderschönen Landschaft, an einem Ort, wo jeder jeden kennt. Sie hätten ihn nicht umbringen müssen, um den Erhalt der Deutschen Nation zu sichern. Er wäre ohnehin in die Türkei zurückgekehrt. Auch sein Leichnam ist nicht hiergeblieben, sondern liegt in seinem Dorf unweit des Hauses, dass er gebaut hatte und wo er leben wollte. Er war mit Sicherheit kein Mensch ohne Fehler. Er war ein Mensch wie wir, mit allem was dazu gehört.

In den letzten Jahren seines Lebens hatte er sich der Religion gewidmet. Er hatte mit seiner Frau eine Pilgerfahrt nach Mekka gemacht. Die Pilgerfahrt ist eine religiöse Pflicht. Er gehört zu den fünf Säulen des Islam. Sie eröffnet die Möglichkeit zur Besinnung, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit und Lebenspraxis und zur Buße. Er versuchte mit sich und seinem Leben ins Reine zu kommen. So wie es bei uns allen ab und an auch der Fall ist. So ein Mann war ENVER ŞİMŞEK. Er wäre stolz auf seine Kinder und seine drei Enkelkinder gewesen, hätte er die Möglichkeit gehabt, sie heute zu sehen.  Stolz darauf, was aus ihnen geworden ist. Im Gegensatz zu ihm, der sein ganzes Leben mit den Händen gearbeitet hat, haben seine Kinder studiert.  Das hätte ihm unglaublich viel bedeutet. Deswegen war er aus seinem Dorf Salur nach Deutschland gekommen.

Enver Şimşek  wäre heute 56 Jahre alt. Er hat viele schöne Momente in seinem Leben verpasst. Das Haus in Salur steht heute leer.  Wer soll da wohnen? Es sind einfach zu viele Erinnerungen. Seine Sachen stehen heute noch im Schrank im Schlafzimmer des Hauses, als ob er jeden Augenblick zurückkehrt. Der Blumenhandel wurde nach seiner Ermordung aufgegeben.

Der Tod eines Menschen meine Damen und Herren ist ein Eingriff im Leben der Verbliebenen. Haben Sie schon mal einen geliebten Menschen verloren? Sicher haben Sie das. Es geht jedem von uns so. Jeder von uns weiß wie schmerzhaft der Verlust eines Menschen sein kann. Wissen Sie, wie der Mensch aussieht, wenn er acht Schussverletzungen hat, davon 5 im Kopf? Man möchte sich an die schönen Momente erinnern. Menschen sind nicht ersetzbar. Niemand kann Enver Şimşek ersetzen. Adile Şimşek hat sich im Alter von 16 Jahren für diesen einen Menschen in ihrem Leben entschieden und mit dessen Tod ist dieses Kapitel in ihrem Leben für immer abgeschlossen.

11 Jahre und 2 Monate hat es gedauert meine Damen und Herren bis die Familie erfahren hat, wer für den Tod von Enver Şimşek verantwortlich war. 11 Jahre und 2 Monate sind eine lange Zeit. Nicht die Ermittlungsbehörden haben unsere Mandanten über die Bekennung des NSU zu dem Mord an Enver Şimşek aufgeklärt. Darüber, dass die Ungewissheit ein Ende hat, dass der Name von Enver Şimşek und seiner Familie wiederhergestellt ist. Vielmehr waren es die Kinder des Verstorbenen, die im Radio davon hörten und anschließend ihre Mutter verständigten. Seine eigene Mutter, die Mutter von Enver Şimşek, hat es nicht mehr mitbekommen. Sie ist im Sommer 2011 gestorben. Die Entscheidung den Vater und Ehemann in der Türkei zu beerdigen war richtig. Sie können hier in Deutschland noch nicht mal eine Gedenktafel an dem Ort anbringen, wo er zu Tode gekommen ist, ohne dass diese immer wieder mit Hakenkreuzen beschriftet wird, so wie es bei der Gedenktafel für Enver Şimşek in Nürnberg zuletzt immer wieder der Fall war.

 Ablauf des 09.09.2000 – Anschlag auf Enver Şimşek

Es ist der 09. September 2000, ein Samstag als Enver Şimşek um vier Uhr in seiner Wohnung in der Dreibrüderstraße im hessischen Schlüchtern aufsteht, um nach Nürnberg zu fahren. Dort will er in der Liegnitzer Straße seinen Stand aufbauen, um Blumen zu verkaufen. Diesen Stand und einen anderen an der Bundesstraße zwischen Wassermungenau und Weißenburg südwestlich von Nürnberg betreibt Enver Şimşek bereits seit Juni 1998.  Beide Stände werden immer samstags und sonntags und auch an besonderen Tagen, wie z.B. am Muttertag betrieben. Seit Ende Juli 1999 beschäftigt Enver Şimşek Herrn Ali T. an der Liegnitzer Straße in Nürnberg, der die Blumen für ihn vor Ort verkauft.   Für den Stand zwischen Wassermungenau und Weißenburg hat er Murat K. eingestellt.

Enver Şimşek liefert diesen Mitarbeitern die Blumen in den Morgenstunden am Samstag mit seinem weißen Transporter mit der Aufschrift ŞİMŞEK BLUMEN an. Es wird ein Klapptisch und ein Stuhl für den Mitarbeiter aufgebaut und die Blumen ausgestellt. Enver Şimşek fährt anschließend mit dem Transporter weg. In der Zeit von Ende Juli 1999 bis zum 23.08.2000 – mit Ausnahme des 14.05.2000 – wird der Stand in der Liegnitzer Str. an den Wochenenden durchgehend von seinem Mitarbeiter Ali T. betrieben. Nicht so am 09. September 2000. Ali T. ist nämlich seit dem 23.08.2000 bis zum 03.10.2000 im Urlaub, so dass Enver Şimşek stellvertretend für diesen an den Wochenenden 26./27.08., 02.09./03.09. und eben am 09.09.2000 in Nürnberg ist. Er sollte eigentlich auch am 10.09.00 und die folgenden Wochenenden bis zur Rückkehr von Herrn T. dort arbeiten. Gegen 5 Uhr  jedenfalls verlässt Enver Şimşek mit seinem Transporter  seine Wohnung in Schlüchtern. Er verabschiedet sich von seiner Frau, die um diese Zeit auch wach ist, weil sie in Würzburg Blumen verkaufen soll. Seine letzten Worte an seine Frau sind, dass sie auf sich aufpassen soll. Er macht sich mehr Sorgen um sie. Die Entfernung von seinem Wohnsitz bis zur Liegnitzer Straße in Nürnberg beträgt 285 km.  Bevor er in die Liegnitzer Straße fährt, fährt Enver Şimşek an die Bundesstraße zwischen Wassermungenau und Weißenburg, um sich dort mit seinem Mitarbeiter Murat K.  – zwecks Übergabe der Blumen zum Verkauf an dem zweiten Nürnberger Stand – zu treffen, der dort bereits auf ihn wartet.  Nach der Zeugenaussage des Murat K. trifft er gegen 7.40 Uhr dort ein. Enver Şimşek übergibt HerrnK. 56 Blumensträuße. Mit Murat K. wurde verabredet, dass er am Abend wieder bei diesem vorbeikommt, um abzurechnen und um gemeinsam nach Allersberg (eine Ortschaft in der Nähe) zu fahren, wo der Zeuge  wohnt und Enver Şimşek gewöhnlich im Gästehaus Sperling übernachtet, wenn er samstags und sonntags verkaufen muss. Circa 5-10 Minuten dauert die Übergabe der Blumen an Herrn K..

Anschließend fährt Enver Şimşek weiter zur Liegnitzer Straße in Nürnberg. So gegen 8.00 bzw. jedenfalls kurz nach 8 Uhr kommt  Enver Şimşek dort an und baut seinen Stand auf. Bei der Liegnitzer Straße handelt es sich um eine stark befahrene Straße süd-östlich von Nürnberg. In der Nähe befindet sich eine Klinik, so dass der Verkauf von Blumen an diesem Standort lukrativ ist.

Hinzu kommt, dass gerade am Wochenende ein reger Fußgänger- und Fahrradverkehr herrscht.  Es sind immer viele Menschen unterwegs. Der 09.September 2000 ist ein sonniger Tag. Ein Spätsommertag. Auch an diesem Tag sind hier viele Menschen unterwegs. In der Nähe befindet sich ein Sportplatz. Sichtbar am Straßenrand neben dem Blumenstand steht der Transporter mit der Aufschrift ŞİMŞEK BLUMEN.  Dieser Transporter steht im gesamten Jahr 2000 nur an den besagten Tagen, d.h. am 14.05. (Muttertag), 26.08., 27.08., 02.09., 03.09.2000 und eben am 09.09.2000 dort, also nur an den Tagen, an denen Enver Şimşek seine Blumen selbst verkauft. Gegen 8.20 Uhr wird Enver Şimşek vom vorbeifahrenden Polizeihauptmeister Wal., der auf dem Weg zu seinem Dienst bei der Polizeistation Nürnberg-Langwasser ist, gesehen. Der Zeuge W. K., der Enver Şimşek persönlich gekannt hat, und des Öfteren bei ihm bzw. seinem Mitarbeiter Ali T. Blumen gekauft hat, sah Enver Şimşek am 09.09.2000 um 12.45 Uhr in seinem Transporter Blumen sortieren.  Es ist das letzte Mal, dass ihn jemand lebend gesehen hat. Es ist der 09.09.2000 gegen 13 Uhr, als auf Enver Şimşek, als er sich in seinem Transporter befindet

neun Schüsse abgegeben werden.
– von diesen neun Schüssen treffen Enver Şimşek acht.
Es handelt sich um 4 Kopfschüsse und einen Durchschuss des linken Augapfels,
-die letzten drei Schüsse treffen ihn, als er wohl bereits auf dem Boden liegt.

Ein Schuss verfehlt Herrn Şimşek trotz des Umstandes, dass auf ihn aus unmittelbarer Nähe geschossen wurde. Es sind zwei Täter und es werden zwei Tatwaffen eingesetzt. Fest steht, dass die Täter gezielt auf den Kopf geschossen haben.   Anschließend machen die Täter zumindest ein Foto von Enver Şimşek, wie er schwerverletzt auf dem Boden seines Transporters liegt. Ein Foto, welches später im Paulchen-Panther-Video auftaucht mit der Überschrift „ORIGINAL“.  Die Täter schließen anschließend die Schiebetür des Transporters und entfernen sich. Acht Schüsse treffen Enver Şimşek, meine Damen und Herren, und er war nicht, wie die späteren Opfer, sofort tot.  Es ist der erste bekannte Mord des NSU.

Es dauert mehr als zwei Stunden bis eine Meldung bei der Polizei eingeht, wonach der Blumenhändler nicht an seinem Stand sei. Das geschieht gegen 15.15 Uhr.  Der Zeuge An. H. wollte Blumen kaufen und wartete 10-15 Minuten auf den Blumenhändler, wie er in seiner Vernehmung bei der Polizei und in der Hauptverhandlung am 10.07.2013 bekundet hat.  Als sich nichts tat, rief er die Polizei.  Die Polizei trifft um 15.27 Uhr vor Ort ein, öffnet die Tür des Transporters und findet den schwerverletzten Enver Şimşek. Zwei Stunden lag Enver Şimşek demnach schwerverletzt, bewegungsunfähig und allein im Transporter. Ob er noch mitbekommen hat, dass die Täter ein Foto von ihm machen.  Er wird jedenfalls umgehend ins Krankenhaus eingeliefert. Die Kopfverletzungen waren laut den Angaben des Dr. Seidl in der Hauptverhandlung am 23.07.2013 schwerwiegend. Enver Şimşek stirbt zwei Tage nach dem Anschlag am 11.09.2000 gegen 12 Uhr in einem Krankenhaus in Nürnberg.

Am 12.09.2000 wird eine Obduktion an dem Leichnam durchgeführt. An die Person Enver Şimşek erinnert nur noch ein Zettel an seinem linken Fuß mit seinen persönlichen Daten. Erst am 14.09.2000 wird die Leiche zwecks Bestattung freigegeben. Der Leichnam von Enver Şimşek wird in die Türkei überführt und in seinem Heimatdorf, Salur, beerdigt. Zum Zeitpunkt seines Todes war Enver Şimşek 38, seine Frau Adile Şimşek 36, seine Tochter Semiya 14 und sein Sohn Abdulkerim 13 Jahre alt.

Nach der Tat

Am 09.09.2000 um 18.56, d.h. dreieinhalb Stunden nachdem Enver Şimşek schwerverletzt aufgefunden wurde, geht ein Fax der Nürnberger Polizei bei der Polizeistation in Schlüchtern, am Wohnort von Enver Şimşek, ein. Ich zitiere aus dem Fax:

Enver Şimşek betrieb zur Tatzeit in Nürnberg, Liegnitzer Str./ Schreiberhauerstraße einen mobilen Blumenverkaufsstand. Er wurde auf Veranlassung eines Kunden, der längere Zeit keinen Verkäufer vorfand, von der Polizei im Inneren des danebenstehenden Kastenwagens der Marke Daimler-Benz Sprinter, Farbe weiß, lebensgefährlich verletzt aufgefunden.  Tendenz zum Ableben besteht. Es wird gebeten, Angehörige zu ermitteln, zu verständigen und über die letzten Kontakte zu Enver Şimşek zu vernehmen, insbesondere zu einem möglichen Tatverdacht.

Nochmals zwei Stunden später gegen 21.50 Uhr – d.h. mehr 6 Stunden nach dem Auffinden des schwerverletzten Enver Şimşek – wird seiner Frau Adile Şimşek von Polizeibeamten der örtlichen Polizei in ihrer Wohnung in Schlüchtern mitgeteilt, dass auf ihren Mann geschossen wurde.  Zunächst denkt Frau Şimşek, dass ihr Mann einen Unfall hatte. Wer sollte ihren Mann auch erschießen? Nach mehreren Anläufen ihr zu erklären, dass auf ihren Mann geschossen wurde,  realisiert sie den Sachverhalt. Die Polizei teilt ihr weiter mit, dass ihr Mann wahrscheinlich nicht überleben wird.  Im gleichen Atemzug wird ihr mitgeteilt: „Nein, sie müssen ihn nicht besuchen.“  In dem polizeilichen Vermerk dazu heißt es wie folgt:

Eine sofortige Fahrt nach Nürnberg in die Klinik hielt KHK Schönwald für nicht angebracht, da Frau Şimşek mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu ihrem Ehemann gelassen würde, zumal derzeit auch noch schwierige Operationen durchgeführt werden müssen.

Solange wollte Frau Şimşek jedoch nicht warten und nach ihren Angaben ggf. mit einem Taxi nach Nürnberg fahren. Sie meinte sinngemäß, dass er ja sterben könne, ohne dass sie ihn noch einmal gesehen hätte.

Mit dem Bruder der Frau Şimşek wurde abgemacht, dass er sie am 10.09.2000 gegen 10.00 Uhr zur Vernehmung nach Nürnberg bringen solle.

Ja, warum auch den sterbenden Mann besuchen wollen, meine Damen und Herren. Würden Sie nicht Abschied nehmen wollen? Und sofort ans Krankenbett eilen? Würden Sie nicht denken, das kann nicht sein, da muss ein Irrtum vorliegen. Würden Sie nicht hoffen? Darauf hoffen, dass eine Verwechslung vorliegt und wenn nicht, dass die Verletzungen nicht so schlimm sind, dass er überleben wird. Es wird schon nicht so schlimm sein. Das ist das, was Frau Şimşek in diesem Augenblick dachte. Und sie macht in diesem Moment genau das, was wir alle machen würden. Sie fährt zu ihrem Mann.   In der Nacht zum 10.09.2000 erreicht sie das Krankenhaus in Nürnberg. Wiederum einige Stunden später – nach einer schlaflosen Nacht – wird sie zur Vernehmung zur Polizeistation nach Nürnberg gebracht. Mit dem Ableben ihres Mannes ist jederzeit zu rechnen.  Sie kann nicht bei ihm im Krankenhaus sein, sondern wird auf der Polizeistation vernommen. Eine Befragung von Frau Şimşek im Krankenhaus wird seitens der Polizei gar nicht erst in Betracht gezogen.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich die Polizei nach dem Mord an Michèle Kiesewetter so verhielt, wie es unter den Umständen nur angemessen und richtig ist: Sie suchten die Mutter von Frau Kiesewetter mit einem örtlichen Seelsorger, einer Pastorin auf, um ihr die Todesnachricht zu übermitteln und wartete mit der Vernehmung 10 Tage, die dann bei ihr zuhause durchgeführt wurde.

Ermittlungen der Polizei – Maßnahmen gegen die Familie

Beim ersten Funkspruch und in den ersten schriftlichen Vermerken der Polizei wird von einem versuchten Mord im Zusammenhang mit Raubdelikten ausgegangen.  In der Hosentasche von Enver Şimşek befanden sich 740,00 DM.  In der Herrenhandtasche, die in der Konsole im Fahrzeuginneren des Transporters lag, wurden später nach einem Hinweis von Adile Şimşek weitere 6.860,00 DM sowie 265,50 DM in einem Kuvert aufgefunden.  Zusätzlich befand sich im Fahrzeug Münzgeld in Höhe von 21,50 DM. Da die Täter offensichtlich kein Interesse am Bargeld hatten, konnte in der Folgezeit von einem Raubmord nicht mehr die Rede sein.

In einem ersten Sachstandsbericht der Polizei 04.10.2000 heißt es später, dass ein Raubüberfall auszuschließen sei. Zum einen sei der Tatort eine stark befahrene Straße, zum anderen sei der Ort stark frequentiert durch Fußgänger und Radfahrer. Davon abgesehen seien beim Opfer hohe Bargeldbeträge aufgefunden worden, was gegen eine Raubtat spreche.  Außerdem hätten beide Täter gezielt auf den Kopf des Opfers geschossen.

Bevor ich fortfahre möchte ich hier festhalten, dass zu keinem Zeitpunkt ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen die Ehefrau oder andere Familienangehörige eingeleitet, sondern das Verfahren gegen Unbekannt geführt wurde, d.h. Familienangehörige waren zu keinem Zeitpunkt offiziell Beschuldigte des Mordes zum Nachteil von Enver Şimşek. Inoffiziell waren sie es jedoch sehr wohl, wie aus zahlreichen Vermerken hervorgeht. Die Polizei vermutete die Täter im Umfeld der Familie. Bereits am 13.09.2000 wird seitens der Polizei Nürnberg, d.h. 4 Tage nach dem Anschlag und zwei Tage nach dem Tod von Enver Şimşek, ein Antrag gestellt, die Überwachung der Handys von Adile Şimşek und des verstorbenen Enver Şimşek sowie die Überwachung der Festnetznummer der Familie am Wohnort zu genehmigen. In dem Antrag der Staatsanwaltschaft wird wie folgt ausgeführt:

Die zu überwachenden Anschlüsse werden von Personen aus dem unmittelbaren Umfeld des Getöteten benutzt. Bei der derzeit unklaren Motivlage besteht Grund zu der Annahme, dass über die nachfolgend genannten Telefonanschlüsse Gespräche geführt werden, die für die Tataufklärung und Beweissicherung von Bedeutung sind.

Am 14.09.2000 beschließt das Amtsgericht Nürnberg, dass die Telefonanschlüsse antragsgemäß für die Dauer eines Monats abgehört werden können.  Das heißt, als die Familie mit dem Leichnam des Verstorbenen in die Türkei unterwegs ist, um ihn zu beerdigen, werden die Telefone bereits abgehört. In der Folgezeit werden die Abhörmaßnahmen wiederholt verlängert, mit Beschluss vom 10.10.2000  um weitere drei Monate und mit Beschluss vom 08.01.2001  erneut um drei Monate. Zuletzt wird mit Beschluss vom 03.04.2001 die Überwachung um weitere drei Monate verlängert. In dem Antrag und auch in der Entscheidung des Gerichts heißt es, dass weiterhin Grund zu der Annahme besteht, dass über die Anschlüsse der Ehefrau des Getöteten Gespräche geführt werden, die für die Aufklärung des Sachverhaltes von Bedeutung seien. Dies bedeutet, dass in der Zeit vom 14.09.2000 bis zum 03.07.2001 sämtliche Gespräche von Adile Şimşek, der Witwe, überwacht werden.

Zudem beantragt die Polizei am 21.09.2000 auch den Anschluss des Bruders von Adile Şimşek abzuhören.  Der weitere Grund, der in einem Antrag auf Telefonüberwachung genannt wird, ist folgender:

Es muss nochmals betont werden, dass sich die Familienangehörigen des Geschädigten mit der Äußerung eines Tatverdachtes auffallend zurückhielten. Es steht fest, dass die Witwe und die Familie Baş (Familie der Witwe) bislang nicht ihr gesamtes Wissen zu möglichen Tathintergründen preisgegeben haben.

Ja, was soll man denn auch sagen, hoher Senat, wenn man doch am Anfang überhaupt keine Vorstellung davon hat, wer den Mann umgebracht haben soll. Wer soll denn da seitens der Familie zu Unrecht beschuldigt werden? Zusätzlich zur Telefonüberwachung wird seitens der Polizei am 02.10.2000 beantragt, die Gespräche, die Adile Şimşek und ihr Bruder in ihren Fahrzeugen führen, abzuhören und aufzuzeichnen. In der Begründung dieses Antrages heißt es:

Um beweiserhebliche Erkenntnisse zu erlangen und mögliche familiäre Motive abzuklären, ist es notwendig, den Inhalt der Gespräche, die Hüseyin Baş und Adile Şimşek in ihren Fahrzeugen führen, abzuhören und aufzuzeichnen.

Das Amtsgericht Nürnberg genehmigt diese Maßnahme, die noch viel stärker in den persönlichen Bereich der Angehörigen eingreift als eine Telefonüberwachung, mit Beschluss vom 04.10.2000.  In den Gründen wird ausgeführt:

Es ist anzunehmen, dass die Betroffenen mit den Tätern in Verbindung stehen oder eine solche Verbindung hergestellt wird.

Mit Schreiben vom 16.11.2000 regt KHK Schönwald bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg zusätzlich an, einen Durchsuchungsbeschluss beim Amtsgericht Nürnberg für die Wohn- und Geschäftsräume von Adile Şimşek in Schlüchtern zu erwirken. Nachdem der Beschluss am 20.11.2000 ergeht, werden die Wohn- und Geschäftsräume der Familie in Schlüchtern am 23.11.2000 in der Zeit von 9.35 und 12.00 Uhr durchsucht. Die Mutter von Adile Şimşek, die sich zur Unterstützung ihrer Tochter und der Enkelkinder zu Besuch in Deutschland aufhielt, war mit der Situation überfordert und fing an zu weinen.  Dies ergibt sich aus einem Aktenvermerk der Polizei. So als ob das etwas ist, worauf man stolz sein kann. Die Durchsuchungsmaßnahme mit mehreren Polizeiautos und uniformierten Beamten war für alle, d.h. Nachbarn und Passanten als solche erkennbar. Schlüchtern, wo die Familie gewohnt und ein Blumengeschäft hatte, ist ein kleiner Ort mit gerade einmal 15.000 Einwohnern. Jeder hat es mitbekommen. Es wurde in der Nachbarschaft viel geredet. Die Polizei aus Nürnberg sei hier und würde alle Befragen hieß es.

Schutzgelderpressung/Angebliches Eifersuchtsmotiv

In den ersten vier Monaten nach dem Tod ihres Mannes wird Adile Şimşek von der Polizei insgesamt sieben Mal vernommen. Die erste Vernehmung findet, wie bereits erwähnt, am 10.09.00 statt. Ihr Mann liegt schwerverletzt im Krankenhaus. Sie wird vom Krankenhaus ins Polizeirevier gebracht.  Sie möchte helfen, damit die Täter gefasst werden, versucht die Zweifel der Polizei, was die Familie und insbesondere das Opfer anbelangt, auszuräumen.  Es erfolgen erste Fragen nach Schutzgelderpressungen. Frau Şimşek muss sich erstmal erklären lassen, was das bedeutet, weil sie mit dem Begriff rein gar nichts anfangen konnte und antwortet:

Wir haben in all den Jahren, wo wir jetzt in Deutschland sind, nie Probleme mit irgendjemanden gehabt und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß es mit Problemen meines Mannes mit anderen Leuten zu tun hat. Auch mein Mann und ich hatten nie Probleme, ich habe ihn sehr lieb, wir haben eine gute Ehe geführt. Streitigkeiten hat es natürlich, wie überall, gegeben aber nie, daß das unsere Ehe in irgendeiner Weise gefährdet hätte.

Die weitere Vernehmung von Frau Şimşek findet am 12.10.2000 statt. Zwischenzeitlich wurde der Leichnam in die Türkei überführt. Das Telefon von Frau Şimşek wird weiter abgehört. Frau Şimşek weiß nicht, wer ihren Mann umgebracht hat und hat Angst, weil sie denkt, dass sie und ihre Kinder gefährdet sind. Sie hat schwere psychische Probleme. Sie hat einen geliebten Menschen verloren. Sie versteht nicht, was passiert ist und wie das passieren konnte.

 Wenn ich danach gefragt werde, ob mein Mann einen bislang unerwähnten „dunklen Punkt“ hatte, von dem niemand wußte, so muß ich sagen, ich kenne keinen solchen „dunklen Punkt“ und habe auch so etwas nie gehört.

Und weiter:

Unser Familien- und Eheleben war sehr in Ordnung, Andere Frauen hatte er nicht, ich kann mir das nicht vorstellen, wir hingen sehr aneinander, über andere Neigungen ist mir nichts bekannt.
Für Enver bestand keine Lebensversicherung, Es bestand einmal eine, die besteht aber schon lange nicht mehr…..
Der Mörder, der den Enver umgebracht hat, vielleicht könnte der neidisch sein. Vielleicht könnte er auch zu mir kommen. Da könnte man dann herausbekommen, wer es war…..
Ich möchte auch meinem Mann folgen und mit ihm zusammen sein. Das wäre für Sie vielleicht auch eine Erleichterung, um den Täter zu finden.
Ich weiß auch gar nicht, warum ich weiterleben soll.
Ich denke mir, dass der, der ihn getötet hat, ihn im Visier hatte und wenn ich jetzt mit den Blumen weitermache, dann hat er mich im Visier. So denke ich mir das. Ich muss jetzt sehr stark sein.
Frage der Polizei: man könnte jetzt natürlich auf den Gedanken kommen, dass man sagt, Enver ist jetzt tot und jetzt können wir das Geschäfts erst richtig angreifen, z.B. mit Ramazan?
Antwort Adile Şimşek: weder ich, mein Bruder, noch der Ramazan können das Geschäft so gut führen wie Enver.

Ein Auszug aus der Vernehmung am 17.11.2000:

Frage: Warum wurde jetzt aufgehört in Nürnberg und in Würzburg zu verkaufen?
Antwort: Wir wollten etwas Urlaub machen und wollten die Wochenenden für uns haben, aber nur hier.

Frage: Warum dies auf einmal. Zuvor habt Ihr gearbeitet wie die Esel und auf einmal schwenkt ihr völlig um. Warum?
Antwort: Wir wollten die Wochenenden für uns haben.  Wenn ich gefragt werde, ob meine Ehe gut war, muss ich sagen, dass sie sehr gut war. Wenn ich weiter gefragt werde, ob wir noch regelmäßen Sexualkontakt hatten, muss ich sagen, …….“

Die Beantwortung gerade dieser Frage ist für die Aufklärung eines Mordes von entscheidender Bedeutung, zumal dessen Wahrheitsgehalt auch überprüft werden kann. Wie dem auch sei. Adile Şimşek hat wirklich ausnahmslos alle Fragen beantwortet. Sie wollte helfen. Die weitere Vernehmung von Frau Şimşek findet am 16.01.2001 statt. Frau Şimşek wird das Foto einer fremden Frau gezeigt und seitens des Vernehmungsbeamten behauptet, dass dies die Freundin ihres Mannes sei. Ihr Mann hätte eine außereheliche Beziehung, von der sie nichts gewusst habe, gehabt. Ich zitiere aus der Vernehmung vom 16.01.2001:

Frage: Ihnen wird noch einmal die Frage gestellt, Frau Şimşek, ob Ihnen etwas darüber bekannt ist, dass Enver eine Freundin hatte.
Antwort: Nein, davon weiß ich nichts. Ich kann mir das auch nicht vorstellen.

Frage: Haben sie in der Zwischenzeit einen Tatverdacht bzw. ein erkennbares Motiv für die Tat?
Antwort: Ich habe in den letzten Monaten viel überlegt. Ich bekam zuletzt auch Depressionen. Ich überlege in der letzten Zeit, ob nicht auch noch meine Brüder oder ich „dran“ wären. Darum habe ich Angst. Ich weiß keinen konkreten Grund, weshalb mein Mann umgebracht wurde.

Vorhalt: Frau Şimşek, wir haben -in den letzten Monaten viele Personen vernommen. Wir haben hierbei erfahren, dass Enver Şimşek daran beteiligt war, Streckmittel für Heroin von Holland nach Deutschland zu bringen. Außerdem wurde uns bekannt, dass Enver Şimşek Kontakt zu Rauschgifthändlern in Frankfurt hatte. Was sagen sie dazu?

Anmerkung aus dem Vernehmungsprotokoll:
Frau Şimşek fängt an zu weinen. Sie hat einen richtigen Wutausbruch bzw. Weinkrampf.

In der Sendung XY, die am 27.04.2001 um 20.15 ausgestrahlt wurde, also zur besten Sendezeit, wird der Mord an Enver Şimşek aufgegriffen.  KHK Vögeler sagt im Fernsehen, dass es sich um eine Beiziehungstat, aber auch um eine Abrechnung im Rauschgiftbereich handeln könne. Bis heute also mehr 17 Jahre nach der Tat, hat sich keine Freundin von Herrn Şimşek gemeldet und auch der Verdacht auf Drogengeschäfte hat sich keineswegs bestätigt. Es gab nicht mal den geringsten Hinweis, dass es Probleme in der Ehe gab oder Eifersucht als Motiv eine Rolle bei der Ermordung hätte spielen können.

Rauschgift

Familie Şimşek wird bereits am 13.09.2000, also 2 Tage nach dem Tod von Enver Şimşek mitgeteilt, dass die Polizei wegen Rauschgift ermittelt. Die Ermittlungen und Befragung in Richtung Rauschgift werden fortgesetzt trotz des polizeilichen Vermerkes vom 14.09.2000, in dem es heißt:

Am 14.09.2000 wurde der LKW durch den Diensthundeführer zusammen mit einem Diensthund auf Betäubungsmittel untersucht. Weder außen am LKW noch in der Fahrerkabine sowie im Laderaum konnten Anhaltspunkte gewonnen werden, die auf Betäubungsmittel hingewiesen hätten.

Es heißt in dem Vermerk weiter wie folgt:  

Im Hinblick auf Unterlagen beim Steuerberater und der Bank wird den Angehörigen erklärt, dass auch ein Zusammenhang mit Rauschgift geklärt werden muss.

Der einzige Grund zu diesem Zeitpunkt in Bezug auf  Rauschgifthandel zu ermitteln, sind die Reisen des Verstorbenen nach Holland, um Blumen für seinen Blumenhandel zu kaufen und die Frage: Wie kann man eigentlich mit Blumenhandel so viel Geld verdienen? Die Ermittlungen ins Rauschgiftmilieu wurden ein Jahrzehnt lang hartnäckig verfolgt, obwohl –trotz einiger falscher Behauptungen von Trittbrettfahrern- nie etwas anderes belegt wurde, als die Fahrten des Ermordeten zum Blumenkauf nach Holland.Diese großartige kriminalistische Arbeit der Ermittlungsbehörden, der Polizei,  meine Damen und Herren, zieht sich durch alle Ermittlungen und hat nicht dazu geführt, dass weitere Morde verhindert hätten werden können. Oder warum konnten die Täter über ein Jahrzehnt nicht überführt werden?

Aber halten wir uns mal an die Fakten im Fall Enver Şimşek.

Unterlassene Ermittlungen

Welchen relevanten Hinweisen ist die Polizei nicht nachgegangen, während sie das Motiv im Bereich der Eifersucht, der Schutzgelderpressung und des Drogenhandels suchte?

Am 10.09.2000, also einen Tag nach dem Anschlag auf Enver Şimşek, meldet sich die Zeugin I. L. bei der Polizei. Der telefonischen Gesprächsnotiz ist zu entnehmen, dass sie mit ihrem Lebensgefährten gegen 12.50 Uhr zuhause losgefahren sei. Sie sei Beifahrerin gewesen und habe an der Liegnitzer Straße in Nürnberg gesehen, wie zwei Männer außen an der Autotür des Kastenwagens gestanden hätten. Eine Person saß oder lag innen sagt sie. Seine Beine standen oder ragten heraus. Diese Zeugin wird nicht umgehend vernommen, obwohl sie die Täter offensichtlich bei der Tatausführung beobachtet hat, sondern erst vier Tage später am 14.09.2000.  Die Vernehmung läuft nicht, wie das eigentlich normalerweise laufen muss, dass nämlich ein weitgehend wörtliches Protokoll der Vernehmung angefertigt wird. Stattdessen wird der Vernehmungsinhalt wiederum nochmals acht Tage später, d.h. nach insgesamt 12 Tage nachdem sie sich gemeldet hat, in einem Aktenvermerk „sinngemäß“ wie folgt zusammengefasst :

Unmittelbar vor der Öffnung (gemeint ist die Schiebetür) befanden sich zwei Männer mit dem Gesicht zum Fahrzeug gewandt. Direkt auf dem Einstieg zur Öffnung saß ein Mann mit dem Gesicht zu den beiden Männern blickend. Noch im Vorbeifahren drehte ich meinen Kopf zu dem genannten Fahrzeug und bemerkte, wie plötzlich der rechte Arm des im Fahrzeug sitzenden Mannes nach oben bzw. nach hinten schnalzte, so, als ob er von den anderen beiden Männern ins Fahrzeug gestoßen worden wäre.

Weiter heißt es:

Zur Beschreibung der Männer kann ich nicht viel sagen, ich weiß nur, dass die vor dem Fahrzeug stehenden Personen dunkel gekleidet waren. Außer dem weißen Lieferwagen des Blumenhändlers stand zum Zeitpunkt meiner Beobachtung kein weiteres Fahrzeug.

Der Zeuge G. B., der mit seinem PKW an dem Stand von Enver Şimşek gegen 13.00 Uhr vorbeifuhr, konnte an der geöffneten Schiebetür des Transporters eine Person erkennen, die gerade einen Fuß auf das Trittbrett des Transporters gesetzt hatte. Des weiteren sah er eine weitere Person im inneren des Fahrzeugs. Zudem hörte er zwei blechern klingende laute Schläge.  In seiner Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung am 10.07.2013 sagte er, dass es mehrere metallisch harte Schläge gewesen seien. Die Person an der Schiebetür sei 20 bis 30 Jahre alt gewesen, sehr groß (ca. 1.80m), schlank, Baseballmütze, schwarze kurze Radlerhose. Diese Personenbeschreibung lag der Polizei damit bereits im September 2000 vor. Das Besondere daran sei gewesen, so der Zeuge, dass er kein Fahrrad gesehen habe.  Für ihn sah das ganze wie eine Rauferei aus schildert der Zeuge sowohl in seiner Vernehmung bei der Polizei am 15.09.2000 als auch in der Hauptverhandlung am 10.07.2013. Sein Sohn A. E. bestätigte in der Hauptverhandlung am 10.07.2013 die blechernen metallischen Geräusche gehört zu haben, über die er auch schon damals bei seiner polizeilichen Vernehmung am 15.09.2000 berichtet hatte.

Der Zeuge H-W. L. erklärte gegenüber der Polizei, dass er Blumen bei Şimşek kaufen wollte und ziemlich genau gegen 13 Uhr zuhause losgefahren sei.  Gegen 13.02 bzw. 13.05 Uhr sei er am Blumenstand eingetroffen. Als er eingetroffen sei, seien auch andere Personen vor Ort gewesen.  Einer habe gesagt, dass er auf den Blumenhändler warten würde, dieser aber nicht da sei.  Die Fahrertür des Transporters sei angelehnt, die Schiebetür des Transporters sei völlig verschlossen gewesen. Sie hätten mehrmals kräftig geklopft.  Man habe gemeinsam einige Minuten gewartet und sei dann weggegangen.

Zu diesem Zeitpunkt lag Enver Şimşek demnach bereits schwerverletzt im Fahrzeug.  Auch der Zeuge L., der gegen 13.15 am Stand eintraf, bestätigte, dass der Blumenverkäufer um 13.15 Uhr nicht am Stand gewesen sei. Somit kann der Tatzeitraum im Gegensatz zur Anklageschrift, wo es zum Tatzeitpunkt heißt zwischen 12.45 und 14.45 Uhr wahrscheinlich gegen 13.00 Uhr, auf exakt 13 Uhr festgelegt werden.

Meine Damen und Herren, fest steht, dass die Aussagen der Zeugen L. und B. die entscheidenden Hinweise im Mordfall Şimşek waren, aber diesen Hinweisen sind die Ermittlungsbeamten nicht nachgegangen sind. Jedenfalls nicht so, wie sie es hätten tun müssen. So fanden keine Befragungen der anderen Zeugen zu diesen zwei von Herrn B. beschriebenen verdächtigen Personen statt, es wurde auch nicht mit anderen Mitteln nach ihnen oder wenigstens Radfahrern oder Personen mit Radlerhosen gesucht.

Gefahndet wurde unmittelbar nach der Tat zunächst nur nach einem silbernen Mercedes mit einem als „farbigen Pärchen“ beschriebenen Mann und einer Frau, weil von einem Zeugen am Blumenstand dieses Pärchen und das Auto gesichtet wurden. Nach den von der Zeugin L. und später den Zeugen B. beschriebenen zwei Personen, die sich verdächtig verhalten hatten, wurde nicht gesucht. Gesucht und gefunden wurde aber das Pärchen, das außer seiner Hautfarbe völlig unverdächtig war. Die Vernehmung dieser beiden Personen ergibt jedenfalls keine Tatbeteiligung. Das Fahrzeug dieses Pärchens wird von der Polizei fotografiert und handschriftlich wird auf dem Foto „Negerfahrzeug“ vermerkt

Auswirkungen der Ermittlungen

Die Ermittlungen und Fragen der Polizei im familiären Umfeld und im näheren Bekanntenkreis nach Drogengeschäften und außerehelichen Beziehungen haben die Familie sehr belastet. Viele Menschen, die Enver Şimşek persönlich kannten, schlossen anfangs aus, dass er in Drogengeschäfte verwickelt war. Dies kann man den zahlreichen Vernehmungen entnehmen. Andererseits. Wer sollte den Mann sonst umbringen hört man hier und dort. Wenn die Polizei das behauptet, muss ja etwas dran sein.Viele Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis aus dem Umfeld der Familie, die zum kondolieren anriefen – die Telefone wurden ja abgehört- wurden zur polizeilichen Vernehmung geladen.

Es erfolgte ein hartnäckiges Befragen seines Umfeldes nach Drogen. Ich zitiere aus der polizeilichen Vernehmung des Is. A. vom 05.10.2000, der Enver Şimşek persönlich kannte:

Vielleicht hat es ja doch mit Drogen zu tun. Denn 7 Schüsse auf einen Menschen macht man nicht wegen dem Stellplatz eines Blumenstandes.

Eine Verwandte der Familie Şimşek gibt auf Befragen der Polizei bei ihrer Vernehmung am 27.09.2000 wie folgt an:

Von einer Freundin, die Enver gehabt haben soll, weiß ich nichts.

Ein weiterer Zeuge aus dem Freundes- und Bekanntenkreis der Familie wird von der Polizei wie folgt gefragt:

Frage: Können Sie sich vorstellen, dass Enver als gläubiger Moslem eine Beziehung zu einer anderen Frau gehabt haben könnte.

Antwort: Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.

Eine andere Vernehmung auf Befragen der Polizei:

Er wisse nicht, ob Enver eine Freundin hatte.  

Weiter…..:

Frage der Polizei:
Hatten Sie den Eindruck, dass die Ehefrau des Enver an ihm hing?
Und weiter ….
Wie hat die Ehefrau Adile auf den Tod Envers reagiert, hat sie lange geweint oder wie war die Reaktion?

Und als die Zeugin nicht das antwortet, was die Polizei offensichtlich hören will. Ich zitiere weiter aus dem Protokoll der Vernehmung:

Sie sind als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet, sagen Sie wirklich die Wahrheit?
Und weiter:
Enver war ja angeblich ein sehr lieber Mensch. Wissen Sie, warum man ihn hätte umbringen sollen?

Oder: Beim erwähnten Gespräch wird dem Zeugen mitgeteilt, dass und nicht ob meine Damen und Herren Enver Şimşek ein Verhältnis mit einer verheirateten türkischen Frau hatte. Er zeigte sofort eine erschütterte Reaktion. Seine ersten Worte waren: Das ist unmöglich, so etwas macht Enver nicht. Immer wieder:

Wissen Sie, ob Enver Şimşek eine Geliebte hatte?

Und so zieht es sich durch dutzende Vernehmungen. . Die Angestellten der Familie im Blumengeschäft in Schlüchtern wurden ebenfalls befragt und sagten bei der Polizei aus, dass es Spaß gemacht habe für die Şimşeks zu arbeiten. Es sei ein „tolles“ Arbeitsverhältnis gewesen. Die Familie war immer freundlich und nett. Sie hätten für das ganze, was mit ihrem Chef passiert sei, keine Erklärung.  Die Fragen nach Drogengeschäften und einer außerehelichen Beziehung von Enver Şimşek im Umfeld der Frage kamen, wie eingangs erwähnt, auch bei Adile Şimşek und den Kindern an.

Die Trauer um den Vater und Ehemann auf der einen Seite, die Angst, ob sie und die Kinder gefährdet sind, weil da draußen die Mörder frei herumlaufen und die Gerüchte auf der anderen Seite. Menschen, die sich von einem distanzieren.

Dann die Vernehmungen bei der Polizei zu denen man wirklich immer hingegangen ist, weil man helfen wollte und die Hoffnung hatte, dass alle Zweifel der Polizei ausgeräumt werden können, damit sie endlich anfangen zu ermitteln. Soweit hier vereinzelt vorgetragen wurde, dass es ganz normal ist, dass im Umfeld der Familie ermittelt wird, darf hierzu ausgeführt werden, dass sich dagegen keiner gewandt hat. Gerade deswegen ist die Familie zu jeder, aber auch jeder, Vernehmung gegangen und hat alle Fragen beantwortet. Jeder andere hätte sich da schon längst einen Anwalt genommen. Das Problem war, dass man einfach nicht damit aufgehört hat. 

Auch darf an dieser Stelle an die Vernehmung des Sachverständigen Herrn Stiefel erinnert werden. In der Hauptverhandlung am 23.07.2013 hat der Sachverständige beim Bayrischen Landeskriminalamt (Ingenieur für Waffentechnik)  Stiefel bekundet, dass das Gutachten, welches am 12.09.2000 von der Nürnberger Polizei im Mordfall Şimşek in Auftrag gegeben wurde – eine Untersuchung u.a. zur Schussentfernung – , erst am 21.06.2002 fertiggestellt wurde,  d.h. 18 Monate nach dem der Auftrag erteilt wurde. Auf Nachfrage, warum das so lange gedauert hat, sagte er in der Hauptverhandlung, dass andere Dinge vordringlich waren.  Ich zitiere:

Das weiß ich nicht mehr. Wir waren voll. Diese Untersuchung ist dann zurückgestellt worden, weil andere Dinge vordringlich waren.  Wir sind personell schlecht besetzt.

Vielleicht können die Damen und Herren der Bundesanwaltschaft erklären, welche Priorität eigentlich die Aufklärung eines Mordfalles bei den Ermittlungsbehörden  hat. ENVER ŞİMŞEK meine Damen und Herren, für den ich hier heute das letzte Mal das Wort ergreifen darf, war 38 Jahre alt, als man ihm das Leben nahm. Er konnte sich gegen die gegen ihn in der Vergangenheit erhobenen Vorwürfe nicht wehren.  Wir haben hier in dieser Hauptverhandlung auch über Persönlichkeitsrechte gesprochen, als es beispielsweise darum ging, die Akten von Zeugen beizuziehen. Die Akten von Herrn Temme beispielsweise. Da sagten die Damen und Herren der Bundesanwaltschaft, dass die Akten nicht herausgegeben werden können, weil sie die Persönlichkeitsrechte des Herrn Temme schützen müssten. Das ist schön und gut, aber was ist eigentlich mit den Persönlichkeitsrechten der Opfer, die im Ermittlungsverfahren verletzt wurden. Als man im Fernsehen auftrat, das Foto von Enver Şimşek gezeigt und zur besten Sendezeit vor Millionen von Zuschauern verkündet hat, dass es sich um eine Beziehungstat und eine Tat im  Rauschgiftmilieu handeln könne.

Die Polizei hat die Aufgabe und die Pflicht jeden Bürger dieses Landes unabhängig von seiner Sprache, Herkunft, Geschlecht und Staatsangehörigkeit zu schützen. Und genau dies hat sie nicht getan. Alle Mordkommissionen, die die Morde der Ceska Serie ermittelten, lagen in sehr unterschiedlichen Bundesländern mit unterschiedlichen historischen Bedingungen und juristischen Traditionen. Und trotzdem verhielten sie sich in einem wesentlichen Punkt identisch: Sie verfolgten jeden noch so entfernten oder abwegigen Hinweis auf angenommene OK-Verbindungen der Opfer oder eine Verbindung der Opfer untereinander mit großem zeitlichen und finanziellen Aufwand. Hinweise von Zeugen auf als deutsch aussehend beschriebene mögliche Tatverdächtige und/oder auf Fahrradfahrer wurden hingegen so gut wie nicht verfolgt. Trotz der Hinweise der Angehörigen wurde ein rassistisches Motiv in keinem der Mordfälle auch nur ernsthaft erwogen und in diese Richtung ermittelt. Auch hier im Verfahren haben wir zur Verteidigung der Polizeiarbeit immer wieder gehört, es sei nicht nach Neo-Nazis als Tätern gesucht worden, weil es keinen Hinweis auf ein rechtes Motiv gab. Aber genauso gab es keinen Hinweis darauf, dass Enver Şimşek seiner Frau untreu geworden war und diese zwei Auftragskiller zu ihm geschickt hatte und trotzdem wurde dieser Ermittlungsansatz mit viel Energie und schrecklichen Folgen für die Familie von der Polizei verfolgt.

Der Umstand, dass sich der Polizeiapparat bei allen Opfern vorstellen konnte, dass diese Kontakte zur organisierten Kriminalität haben oder dass ihre Frauen sie aus Eifersucht töten ließen, aber ein rassistisches Motiv nicht für möglich hielten bzw. dieses nicht verfolgten, hat mit der Herkunft der Opfer zu tun. Vorurteile beherrschten die Polizeiapparate so, dass sie nur die Ermittlungsansätze in Richtung organisierte Kriminalität verfolgten und ein rassistisches Motiv für sie nicht denkbar war. Noch einmal: dies sagt nichts über die Motive der einzelnen ermittelnden Beamten aus. Vielmehr zeigt sich der Rassismus in Abläufen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die durch unbewusste Vorurteile, Nichtwissen, Gedankenlosigkeit und rassistische Stereotype zu Diskriminierung führen und Menschen benachteiligen. In diesem Fall die Hinterbliebenen von Enver Şimşek und der übrigen Opfer der Ceska-Serie. Und natürlich haben die Morde insbesondere nachdem klar wurde, wer die Morde begangen hatte, dazu geführt, dass migrantische Bevölkerungsgruppen in diesem Land verunsichert sind und sich nicht geschützt fühlen. Insoweit war der NSU erfolgreich.

95 % der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie Opfer eines rassistischen Anschlages sein. Sie werden nie in die Situation kommen, dass das Haus/die Wohnung, in dem Sie mit Ihrer Familie und Ihren Kindern leben,  in dem Sie sich geschützt und zuhause fühlen, in Brand gesteckt wird. Sie werden nicht in die Situation kommen, den Namen auf ihrem Briefkasten oder der Klingel zu entfernen, damit von außen nicht erkennbar ist, dass hier eine ausländische Familie wohnt.

95 % der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden nie in die Situation kommen, dass man Ihnen oder Ihren Angehörigen an Ihrem Arbeitsplatz –während Sie arbeiten- in den Kopf schießt, weil Sie Ausländer sind.

95 % der Menschen, die in diesem Raum sitzen, werden auch nie verstehen, was es heißt, wenn die Polizeibeamten dieses Landes nicht in der Lage sind, Sie unabhängig von ihrer Herkunft zu schützen. Und nicht nur das, Sie verdächtigen, selbst schuld an Ihrem Tod zu haben. Deswegen können Sie auch nicht begreifen, was solche Taten mit Menschen anstellen.