Mordfall Kiesewetter – Heilbronn. Wie viel Zufall kann es in einem Strafverfahren geben?

Wenig wird im Rahmen des NSU-Verfahrens so kontrovers diskutiert wie die Frage, ob Michéle Kiesewetter das zufällige Opfer eines Mordes war (zur falschen Zeit am falschen Ort) oder ob sie gezielt umgebracht wurde. Die Bundesanwaltschaft hat sich für die erste Variante entschieden, wenn es in der Anklage heißt: „Die Tat richtete sich gegen Zufallsopfer, die nur deshalb angegriffen wurden, weil sie Polizisten und damit Vertreter des von der terroristischen Vereinigung ,,NSU“ gehassten Staates waren“. 

Ein wichtiges Argument dafür ist allemal, dass Michéle Kiesewetter nachweislich den Dienst getauscht hatte, das heißt erst kurz vor der Tötung bekannt war, dass sie zum Mordzeitpunkt überhaupt im Streifenwagen unterwegs sei.

Andererseits: Kiesewetter stammte aus Thürigen und in ihrem Heimatort führte der Schwager von Wohlleben eine Kneipe. Die Mietzeit des zum Zeitpunkt des Mordes vom Trio ausgeliehene Fahrzeug, das in Heilbronn festgestellt wurde, wurde vor dem Mord verlängert. Einen guten Überblick über alles, was gegen einen Zufall und für eine Beteiligung von weiteren Personen spricht  gibt Hajo Funke in der Onlinezeitschrift Kontext (jeweils als Print-Teil der Samstags-TAZ beigelegt). Und irgendwann muss auch Schluss mit den Zufällen in diesem Verfahren sein.

5 Zufälle ?

Wir haben mitgezählt und kommen mitlerweile – ohne die Mordtat in Heilbronn – auf 5 Zufälle:

Heftig in der Öffentlichkeit diskutiert ist die Tatsache, dass der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, Andreas T.  sich in dem Internetcafé aufhält, in dem Halit Yozgat erschossen wird. Nach dem jetzigen Stand der Aufklärung wird man zwar davon ausgehen müssen, dass dieser Zeuge die Unwahrheit sagt, wenn er behauptet, er habe beim Verlassen des Internetcafés den Getöteten nicht gesehen, bisher gibt es aber keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass er tatsächlich schon beim Betreten des Internetcafés wusste, dass ein Mord geschehen würde, oder gar selbst daran beteiligt war.

Der bekannte Neonazi und NPD-Mitglied André Kapke hält sich am 4.11.2011 für ca. 30 Minuten in der Funkzelle auf, in der sich auch Mundlos und Böhnhardt nach dem Banküberfall  in Eisenach aufhalten und sich anschließend selbst töten. Aufgrund der Ermittlungen dürfte aber feststehen, dass André Kapke tatsächlich kurz zuvor ein Auto gekauft hat, und sich vom Autokauf auf dem Rückweg nach Zwickau befand, als er zufällig in die Funkzelle geriet.

Yunus Turgut wurde in Rostock in einem Stadtteil ermordet, in dem eine Cousine von Uwe  Böhnhard wohnt, es gibt aber keine Anhaltspunkte dafür, dass Böhnhardt diese Cousine ausser in  seinen Kindertagen jemals besucht hatte.

Der Vermieter der Wohnmobile, bei dem das Trio regelmäßig angemietet hat, befindet sich am Tag der Ermordung von Michéle Kiesewetter in der Nähe von Heilbronn. Auch hier spricht allerdings nach den Ermittlungen alles dafür, dass er tatsächlich nur in der Gegend war, um sich ein gebrauchtes Wohnmobil zwecks eventuellen Ankaufes anzusehen.

Am 07.12.2006 kommt es in der Wohnung oberhalb der damals vom Trio bewohnten Wohnung zu einem offensichtlich bewusst herbeigeführtem Wasserschaden (Aufdrehen eines Eckventils). Wäre das Wasser etwas länger gelaufen, hätten wohl auch Aussenstehende die Wohnung des Trios betreten müssen. Zwei in Frage kommenden Bewohner des Hauses bestreiten, den Hahn aufgedreht zu haben. Eine eindeutige Ermittlung des Verantwortlichen dafür gibt es bis heute nicht. Zwei Tage zuvor, am 05.12.2006 startet der Verfassungsschutz eine Operation „Grubenlampe“ bei der der jetzige Mitangeklagte E. vom Verfassungsschutz observiert wird. Auch dies bisher lediglich eine zufällige Gleichzeitigkeit?

Man kann es zwar nicht recht glauben, aber letztlich gibt es bis heute keine belastbaren Indizien dafür, dass all diese Beziehungen nicht wirklich nur Zufall waren, auch wenn bereits jeder einzelne dieser Zufälle eine extrem geringe Wahrscheinlichkeit hat und alle gemeinschaftlich in der Kombination mathematisch gesehen deutlich seltener wären als ein Lotto-Gewinn.

 „Wenn wir davon überzeugt sind, dass Ihre Mandantin die Täterin ist, dann brauchen wir kein Motiv“

erklärte mir Anfang der 80er Jahre einmal der Vorsitzende einer Strafkammer, als ich die Frage aufwarf, worin das Motiv der damaligen (sehr obskuren) Urkundenfälschung gelegen haben soll. Aber es ist natürlich in der Tat richtig: Dass ein Täter ein Motiv hat, mag zwar die Überzeugung von seiner Täterschaft stärken, zum gesetzlichen Tatbestand gehört das Motiv nicht. Und wenn jetzt in dieser Woche die „Aufklärung“ über Mord und Mordversuch in Heilbronn beginnt, dann wird angesichts der Beweissituation kaum ein Zweifel daran bestehen können, dass das Trio an der Mordtat beteiligt war. Die Mittäterschaft der Angeklagten Zschäpe wird sich ohnehin kaum aus den unmittelbaren Beweismitteln zu Heilbronn ergeben.

Es steht damit zu befürchten, dass im jetzigen Strafverfahren die Hintergründe der Heilbronner Tat nicht aufgeklärt werden, da sie letztlich für die Frage der Schuld der Angeklagten nicht entscheidend sein werden. Wenn aber in allen denkbaren Varianten vieles dafür spricht, dass zumindest der Ort des Anschlages wegen der starken Neonazis in Heilbronn und der Kontakte des Trios zu diesen ausgewählt wurde, dann bedarf es ohne Zweifel weiterer Aufklärung. Es spricht einiges dafür, dass zwar den Angeklagten die Schuld im Sinne der Anklage nachgewiesen werden kann, die Aufklärung der historischen Wahrheit über den NSU, seine Unterstützer und den staatlichen Einfluss wird im Strafverfahren aber – wenn überhaupt – nur wenig vorankommen. Deswegen ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses in Baden-Württemberg speziell zum Mord Heilbronn und nach Abschluss des Münchener-Verfahrens noch einmal im Bund (zu allen offen gebliebenen Fragen) unabweisbar.