Bundesverfassungsgericht maßregelt Gerichte wegen Verletzung der Meinungsfreiheit

Es ist schon ein bemerkenswerter Vorgang, wenn das Bundesverfassungsgericht in kürzester Zeit sechs Entscheidungen trifft und veröffentlicht, in denen Gerichte wegen Ihrer Entscheidungen zur Meinungsfreiheit korrigiert werden. Nach zwei sehr ähnlichen Entscheidungen vom 17.5.2016, die am 24.6. veröffentlicht wurden, folgte eine weitere am 28.6. (veröffentlicht am 9.8.) und gleich drei Entscheidungen am 29.6.2016, veröffentlicht am 2.8., 3.8. und 4.8. Vier der Aktenzeichen stammen aus 2014 die anderen aus 2015. Von den letzten 15 Pressemitteilungen, die sich mit Entscheidungen des BVerfG befassen, betreffen 5 die Meinungsfreiheit. Es fällt schwer zu glauben, dass Auswahl  und Zeitpunkt der Entscheidungen zufällig sind.

Wenn man davon ausgeht, dass dem Bundesverfassungsgericht im Jahr mehr als 5000 Verfassungsbeschwerden vorgelegt werden (im Jahre 2015: 5.739), dann dürfte vieles dafür sprechen, dass es auch eine Vielzahl von Verfassungsbeschwerden gibt, die die Verletzung des Grundrechtes der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 GG rügen. Vielleicht handelt es sich bei diesen Entscheidungen nur um die Spitze des Eisberges, den das Verfassungsgericht auf Grund der Vielzahl der Beschwerden gut überblicken wird. Wir selbst haben ja auch schon gelegentlich Verfassungsbeschwerden erhoben, von den (geschätzt) 20 bis 30 war nur eine erfolgreich, eine der nicht erfolgreichen führte zumindestens zu einer Grundsatzentscheidung des gesamten Senates (was relativ selten ist). Die meisten allerdings wurden ohne jede Begründung zurückgewiesen, ein Schicksal, das heute 90 % der nicht erfolgreichen Verfassungsbeschwerden erleiden. Und natürlich überkommt einen beim Lesen erfolgreicher Verfassungsbeschwerden immer wieder die Frage: „Was hatte die, was meine Verfassungsbeschwerde nicht hatte?“ Die jetzige Serie spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht Beschwerden auch mit dem Ziel aussucht, die Gerichte auszurichten.

 Keine Beleidigung gegen Berufsgruppen im allgemeinen.

Bei den Entscheidungen vom 17.5.2016 (1 BvR 2150/14 und  1 BvR 257/14) ging es wie früher schon einmal und die Äußerung A.C.A.B (all cops are bastards). Die Parole ist nicht etwa allgemein erlaubt, vielmehr rügte des Verfassungsgericht:

„Dabei kann eine herabsetzende Äußerung, die weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfasst, unter bestimmten Umständen auch ein Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein (vgl. BVerfGE 93, 266 <299>). …. Es ist verfassungsrechtlich nicht zulässig, eine auf Angehörige einer Gruppe im Allgemeinen bezogene Äußerung allein deswegen als auf eine hinreichend überschaubare Personengruppe bezogen zu behandeln, weil eine solche Gruppe eine Teilgruppe des nach der allgemeineren Gattung bezeichneten Personenkreises bildet (vgl. BVerfGE 93, 266 <302 f.>)“.

 

Warum sachlich, wenn es auch polemisch geht.

In der Entscheidung 1 BvR 2646/15  geht es um einen Rechtsanwalt, über den es in der Entscheidung heißt:

Nach den Feststellungen der Fachgerichte kannte der Beschwerdeführer den Journalisten nicht und wollte ihm keine Fragen beantworten oder ihm ein Interview mit dem Beschuldigten vermitteln, war jedoch immer noch wütend über den Verlauf der Ermittlungen und bezeichnete im Laufe des Telefonats die zuständige Staatsanwältin als
„dahergelaufene Staatsanwältin“, „durchgeknallte Staatsanwältin“, „widerwärtige, boshafte, dümmliche Staatsanwältin“, „geisteskranke Staatsanwältin“.

Das Verfahren hatte schon fünf Instanzen hinter sich: Amtsgericht verurteilt, Landgericht freigesprochen, Kammergericht (gleich Oberlandesgericht) aufgehoben, Landgericht nunmehr verurteilt, Kammergericht Revision verworfen, Bundesverfassungsgericht hebt die Entscheidung auf. Dabei ging es dem Bundesverfassungsgericht wohl vor allen Dingen darum, noch einmal Folgendes zu betonen:

Zu beachten ist hierbei indes, dass Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen schützt, sondern gerade Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen darf; insoweit liegt die Grenze zulässiger Meinungsäußerungen nicht schon da, wo eine polemische Zuspitzung für die Äußerung sachlicher Kritik nicht erforderlich ist (vgl. BVerfGE 82, 272 <283 f.>; 85, 1 <16>).

Gerichte neigen allzu sehr dazu, jemandem vorzuschreiben, wie er seine Kritik zu äußern hat und wie nicht. (Etwa nach der Devise: Ihr Anliegen in allen Ehren, aber dafür müssen sie doch nicht so etwas sagen/schreiben).  Mindestens genauso gravierend war allerdings, dass die Gerichte auch die Äußerung nicht im gesamten Zusammenhang gewürdigt hatten, auch dies ein relativ häufiger Fehler, der wieder einmal korrigiert wurde. Allzu schnell nehmen die Gerichte – so auch hier – eine Schmähkritik  an um sich weitere Auseinandersetzungen zu sparen. Das kann dann beim Bundesverfassungsgericht schiefgehen. Vom Ergebnis her ist der Kollege allerdings noch nicht aus dem Schneider:

„Es ist allerdings festzuhalten, dass ein Anwalt grundsätzlich nicht berechtigt ist, aus Verärgerung über von ihm als falsch angesehene Maßnahmen einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwalts diese gerade gegenüber der Presse mit Beschimpfungen zu überziehen. Insoweit muss sich im Rahmen der Abwägung grundsätzlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen durchsetzen. Wie hier die Abwägung – die sich gegebenenfalls auch auf die Strafzumessung auswirkt – unter näherer Würdigung der Umstände ausfällt, obliegt jedoch fachgerichtlicher Würdigung.“

Im Übrigen sollte man mit „durchgeknallt“ eher vorsichtig sein, vor allem in schriftlichen Äußerungen. Zwar sollte auch ein ZEIT-Herausgeber nicht für eine Äußerung über einen „durchgeknallten Staatsanwalt“ belangt werden,  andererseits wurde ein Kolumnist der Bild-Zeitung für eine „durchgeknallte“ Frau (Ex-CSU Abgeordnete Pauli) zu Unrecht nicht zur Unterlassung verurteilt.

Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen

In der Sache 1 BvR 2732/15  hatte jemand über einen ihn suchenden Polizeibeamten  im Facebook geschrieben:

„Da hat der [Name des Polizeibeamten ] nix besseres zu tun, als in K. und Co in irgendwelchen Einfahrten mit Auf- und Abblendlicht zu stehen und in die gegenüberliegenden Häuser in den Hausplatz zu leuchten!!! Der [Vorname ] Spanner [Nachname ] (PI …)“

Verurteilt wurde der Äußernde nach § 186 StGB (üble Nachrede), was voraussetzt, dass eine nicht erweislich wahre Tatsache berichtet wird, das Amtsgericht hatte ausgeführt:

Mit der Verwendung des Wortes „Spanner“ habe er Tatsachen verbreitet, die geeignet seien, den Polizeibeamten in seiner Ehre zu verletzen. Dem Beschwerdeführer sei bewusst gewesen, dass es sich um eine unwahre Tatsache handle.

Hier hatte das Bundesverfassungsgericht wieder einmal Veranlassung den Gerichten zu erklären, dass es hier nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Meinungsäußerungen geht. Auch hier allerdings folgt der Wermutstropfen für den Bürger auf den Fuß: Es kann also durchaus sein, dass er noch wegen Beleidigung verurteilt wird statt wegen übler Nachrede. Wenn aber trotzdem das BVerfG diese Beschwerde angenommen und entschieden hat, dann gerade wegen der zentralen Bedeutung der Unterscheidung im gesamten Äußerungsrecht.  Bei Tatsachen gibt es richtig und falsch, bei Meinungen nicht. Gerade im Zivilrecht bedeutet Tatsachenbehauptung, dass der Äußernde den Wahrheitsbeweis antreten muss. Werden Meinungsäußerungen zu Tatsachenbehauptungen erklärt, ist regelmässig der Wahrheitsbeweis nicht möglich.

Doppelt abgewatscht: Die Hamburger Pressejustiz

Nicht überraschend ist, dass zwei weitere  Entscheidung dann wieder einmal die Zivilverfahren vom Landgericht und Oberlandesgericht Hamburg betreffen. Diese Gerichte kokettieren gerne mit ihrer besonderen Erfahrung und ihren besonderen Erkenntnissen auf dem Gebiet des Presserechtes, tatsächlich gelten sie allerdings als besonders klägerfreundlich. Da Kläger sich in fast allen Fällen den Gerichtsstand aussuchen können, klagen sie auch gerne in Hamburg. Ginge es nur um die Qualität der Rechtsprechung  müsste misstrauisch machen, dass das Bundesverfassungsgericht den Entscheidungen vorwirft, dass sie nicht „tragfähig begründet“ seien. In beiden Entscheidungen geht es um zentrale Fragen des Äußerungsrechts, in einem Fall um die Frage der Wahrheit von Äußerungen, im anderen um die Frage wann auch wahrheitsgemäße Äußerungen das Persönlichkeitsrecht verletzten.

 

„Der Wahrheit … zu dienen“ – aus dem Richtereid nach § 38 DRiG

In der Entscheidung 1 BvR 3388/14 ging es um eine typische Konstellation: Gestützt auf eine Zeugenaussage behauptete ein Antidopingkämpfer, dass eine zu DDR Zeiten 13-jährige von Ihrem Trainer mit Doping versorgt wurde. Die klagte dagegen. Da am Ende der Beweisaufnahme der Beklagte seine Behauptung nicht beweisen konnte, behandelte sie das Gericht als „prozessual unwahr“ und verurteilte zur Unterlassung. Natürlich war auch das Gegenteil nicht erwiesen. Das Verfassungsgericht dazu:

„Nicht tragfähig ist hingegen die Auffassung der Gerichte, dass die streitbefangene Behauptung des Beschwerdeführers, die Klägerin habe 1985 von ihrem damaligen Trainer das Dopingmittel Oral-Turinabol bekommen, wegen ihrer Nichterweislichkeit als „prozessual unwahr“ zu gelten habe und bereits aus diesem Grunde das Persönlichkeitsrecht der Klägerin überwiege. ….
Für diesen Fall der Verbreitung von Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt nicht festgestellt werden kann, kann das Grundrecht der Meinungsfreiheit einem generellen Vorrang des Persönlichkeitsrechts entgegenstehen.“

Das Landgericht Hamburg neigt dazu, im Zweifelsfall eher von einer Tatsachenbehauptung als von einer Meinungsäußerung  auszugehen. Man hat selten den Eindruck, dass es dem Gericht um die tatsächliche Wahrheit geht, „bescheiden“ begnügt es sich mit der „prozessualen Wahrheit“ (von der allerdings im Richtereid nicht die Rede ist), es käme auch kaum auf die Idee, den jeweiligen Kläger zur Aufklärung aufzufordern. Das Gericht kann sich offenbar nicht vorstellen, wie demütigend es sein kann, wenn ein Beklagter verurteilt wird etwas zu unterlassen, von dem er weiß, dass es stimmt, das er aber nicht beweisen kann.

Wer sich selbst an den Pranger stellt, darf sich darüber nicht beschweren

Auch beim dem Schutz des Persönlichkeitsrechtes gegenüber wahren Äußerungen zeigte sich die Hamburger Pressejustiz im Verfahren 1 BvR 3487/14 wieder klägerfreundlich. Es hatte folgende wahrheitsgemäße Äußerungen in einem Bewertungsportal verboten:

„Ende 2007 war ich leider gezwungen Herrn … bezüglich der Rückgabe meiner Mietkaution vor dem Amtsgericht Hamburg-Wandsbek zu verklagen. Im November 2008 bekam ich dann vom Amtsgericht … einen Titel, der Herr … verpflichtete, 1.100 € an mich zu zahlen. …. Erst nach Einschalten der Staatsanwaltschaft … und dem zuständigen Gerichtsvollzieher hat Herr … dann Ende Februar 2009 gezahlt. Mit Herrn … werde ich bestimmt keine Geschäfte mehr machen.“

Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht schon immer wieder darauf hingewiesen, dass wahrheitsgemäße Äußerungen aus der sogenannten „Sozialsphäre“ (insbesondere berufliches und öffentliches Wirken) regelmäßig nicht verboten werden dürfen. Trotzdem versuchen Gerichte immer wieder hier Verbote durchzusetzen. Die Gerichte berufen sich regelmäßig auf die sogenannte „Prangerwirkung“, die auch wahrheitsgemäße Berichte haben können. Auch hier musste das Bundesverfassungsgericht wieder einmal klärend eingreifen:

„Zu den hinzunehmenden Folgen der eigenen Entscheidungen und Verhaltensweisen gehören deshalb auch solche Beeinträchtigungen, die sich aus nachteiligen Reaktionen Dritter auf die Offenlegung wahrer Tatsachen ergeben, solange sie sich im Rahmen der üblichen Grenzen individueller Entfaltungschancen halten.“

Wer einen Mörder einen Mörder nennt, prangert diesen an, aber nicht über das Maß hinaus, das er „verdient“ hat. Da  die Gerichte nicht begründen konnten warum bei der Veröffentlichung eine (unzulässige) Prangerwirkung entsteht, wurde die Entscheidung aufgehoben.

Mit allen drei Tendenzen in ihrer Rechtsprechung (Annahme von Tatsachenbehauptung statt Werturteil, prozessuale Wahrheit statt historischer Wahrheit, weite Auslegung von Prangerwirkung) üben die Pressegerichte in Hamburg eine erhebliche Anziehungskraft auf unseriöse Gestalten aller Provinenz aus. Ein Kläger überlegt nicht mehr, ob er sich wirklich nur gegen Unwahrheiten verteidigt, sondern er überlegt oft auch, ob der Äussernde seine – vielleicht sogar wahre Äußerung – beweisen kann.

Es bleibt abzuwarten, wie die Hamburger Gerichte die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes verarbeiten. Wir selbst haben noch mehrere Verfahren in Hamburg liegen, bei denen es sowohl  um die Frage der Wahrheit von Äußerungen wie aber auch der Namensnennung in der wahrheitsgemäßen Gerichtsberichterstattung geht.

Eberhard Reinecke