Ich muss gestehen: Ich bin das Opfer eines Notabiturs. Als ich im November 1966 Abitur machte, dauerte das 13. Schuljahr nur gut ein halbes Jahr, es hatte Ostern begonnen. Durch zwei Kurzschuljahre wurde erreicht, dass der Schuljahresanfang auf den Sommer verlegt wurde. Und so fanden in den meisten Bundesländern zwischen Ostern 1966 und den Sommerferien 1967 zwei Schuljahre statt. Oh je, wie schlimm war das erst für den Jahrgang nach uns, der fast ein Jahr an Schule verpasst hatte.
Was sind wir damals gehänselt worden, wie oft wurden wir danach gefragt, ob wir denn eigentlich ein vollwertiges Abitur gemacht hätten. Immer wieder wurde bei Bewerbungsverfahren darauf hingewiesen dass man ja eigentlich kein richtiger Abiturient sei. Und wie überlegen waren die Schüler*innen aus Berlin, wo es keine Kurzschuljahre gab, sondern über 13 Jahre hinweg der Übergang erfolgte. Doch einmal Ironie beiseite, das ist natürlich alles Quatsch. Ich konnte für mein Studium feststellen, dass der Ausfall von ca. 4-5 Monaten sich nicht auf meine weitere Laufbahn ausgewirkt hat. Aus der Klasse unter mir ist ein recht bekannter Physiker hervorgegangen, obwohl er sogar zwei Kurzschuljahre hatte.
Weniger Prüfungen und Noten sind sowieso besser
Was also soll das gesamte ich Gejammer um die Aufrechterhaltung der Prüfungen (ein schöner Überblick findet sich in der Welt). Die richtige Forderung:
„Auch in diesem Schuljahr muss gelten, dass aus der besonderen Situation in diesem Schuljahr für Schülerinnen und Schüler keine Nachteile entstehen dürfen.“
wird dazu benutzt, den absoluten Vorrang der Prüfungen vor der gesamten schulischen Ausbildung aller Kinder und Jugendlicher zu behaupten. Bundeselternrat (wer das auch immer ist) und Philologenverband fordern ein „vollwertiges Abitur“. Die Durchführung der Prüfungen soll Vorrang haben, Rücksichtnahme auf die Schulausfälle nur begrenzt erfolgen. Eine besondere Perle des Philologenverbandes entnehme ich dem Kölner Stadtanzeiger vom 16.1.2021:
„Das darf man den jungen Menschen nicht antun“ sagt Andreas Bartsch. Ein „Corona Abitur“ schmälere die Chancen bei der weiteren Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt.“
Wie sprach noch der Metzger: „das darf man den Schafen nicht antun und sie nicht zur Schlachtbank führen, dann verfehlen sie doch ihr Lebensziel“. Ich als Notabiturient habe weder bei mir noch meinen Klassenkameraden irgendwelche Nachteile feststellen können.
Jeder der etwas von Prüfungen versteht, weiß aber, dass ohnehin die punktuellen Prüfungen nie in der Lage sind die wirklichen Kenntnisse und Fähigkeiten (schon gar nicht Fähigkeiten wie soziale Kompetenz) von Menschen festzustellen. Man könnte Prüfungen bestenfalls als Indiz dafür sehen, wie weit die Lehrer*innen es geschafft haben. den Schüler*innen den Stoff zu erklären. Tatsächlich aber sind Prüfungen und Noten (verbunden mit Drohungen wie: „Du schaffst es nicht aufs Gymnasium“, „du schaffst Dein Abitur nicht“) bis heute die besten Instrumente, um lernwillige Kinder und Jugendliche in Angst und Schrecken zu versetzen und Ihnen die Lust am Lernen auszutreiben und die Schüler*innen zu spalten. Deutschland ist bekanntlich noch immer ganz weit vorne, wenn es darum geht, dass die soziale Herkunft den Schulerfolg bestimmt. Diese Wohltat des besonders selektierenden Schulsystems wird durch die Prüfungen unter Coronabedingungen noch einmal verschärft. Statt die Corona Krise zu nutzen, um den Druck von Kindern und Jugendlichen zu nehmen, wird dieser Druck erhöht, in dem monstranzartig die Durchführung der Prüfungen als wichtigster Teil der Schule vor sich her getragen wird.
Wenn befürchtet wird, dass die Universitäten ihre Anforderungen an die Abiturienten nicht herabsetzen würden, so müsste irgendjemand einmal konkret erklären, welche Anforderungen jemand nicht erfüllen kann, wenn er nur ein „Corona-Abitur“ gemacht hat. Hier werden offensichtlich zusätzliche Befürchtungen geschaffen, die ohne realen Hintergrund sind.
Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir (oder in „humanistisch“: non scolae, sed vitae discimus)
So versucht man Schüler*innen, denen man zuvor die Lust am Lernen ausgetrieben hat, wieder eine Motivation zu geben mit der Behauptung, sie könnten das schulische Wissen für ihr weiteres Leben nutzen. Pech nur dass das Originalzitat genau andersherum läuft. Ein alter Römer hat bereits 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung Philosophenschulen mit dem Satz kritisiert : „Nicht für das Leben, sondern die Schule lernen wir“. Heute ist die ganze Sache noch perverser: „Weder für das Leben noch für die Schule, sondern ausschließlich für die Abschlussklausur lernen wir“. Und nach der Arbeit können wir auch alles wieder vergessen, weil es sowieso nur für die Prüfung gebraucht wurde.
Wer hat eigentlich Angst davor, dass bei einer solidarischen Bewältigung der Corona Problematik an den Schulen – selbst wenn darunter Stoff und Prüfungen leidet – die Schülerinnen mehr für ihr Leben lernen, als bei einer künstlich aufrechterhaltenen Atmosphäre von Prüfungsstress.
Gerechtigkeit und Gleichheitsgrundsatz
Und bleibt dann nicht die Gerechtigkeit auf der Strecke, wenn ein „gut“ im Abiturjahrgang 2021 angeblich weniger Kenntnisse voraussetzt als ein „gut“ im Jahre 2019? Nun ja, der Gleichheitsgrundsatz gebietet gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln und ungleiche Sachverhalte ungleich. Wenn die Verhältnisse andere sind, können auch angeblich geringere Leistungen ein „gut“ rechtfertigen. Ein Verstoß gegen der Gleichheitsgrundsatz wäre es vielmehr, wenn der Staat die vernünftige Beschulung aller nicht sicherstellen kann, an diese Schüler*innen aber dieselben Anforderungen stellt, wie an andere Jahrgänge, die bessere Voraussetzungen hatten.
Eberhard Reinecke