Der Mord an Mehmet Turgut in Rostock – Teil 1 des Plädoyers von RA Hardy Langer

Mit freundlicher Genehmigung des Kollegen Langer dokumentieren wir sein Plädoyer in zwei Teilen. Teil 1 zum NSU Mord in Rostock, der akribisch den Ablauf nachzeichnet und auch die Ermittlungen der Polizei. RA Langer hat Anhaltspunkte dafür gefunden, dass Frau Zschäpe eventuell selbst an der unmittelbaren Tatausführung beteiligt war.Das Plädoyer fand positive Resonanz in der Presse (Süddeutsche und SPIEGEL-Online). Teil 2 befasst sich mit einzelnen Aspekten von Aussagen der Angeklagten Zschäpe und weiteren Aspekten der Ceska-Serie. (RA Langer selbst hat in seinem Plädoyer die Angeklagten und die verstorbenen Täter abgekürzt: BZ=Beate Zschäpe, UM=Uwe Mundlos, UB=Uwe Böhnhardt, RW=Ralf Wohleben, AE = André Eminger, HG = Holger Gerlach, CS = Carsten Schulze. Andere Abkürzungen sind von mir im Rahmen der Veröffentlichung vorgenommen worden. E.Reinecke)

Hoher Senat,

werte Verfahrensbeteiligte,

sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin Nebenklägervertreter von Cihan und Fatma Turgut. Sie sind Schwestern des am 25. Februar 2004 in Rostock ermordeten Mehmet Turgut, der das fünfte Opfer der Ceska-Mordserie war. (RA Langer weist zunächst darauf hin, dass der richtige Name des Getöteten Mehmet Turgut und nicht Yunus Turgut lautet (wie in der Anklage) Dieser Teil wird hier nicht abgedruckt.)

Mein Schlußvortrag umfaßt zwei Teile. Zuerst soll es um den Mordfall in Rostock gehen, die Auswahl von Tatort und Tatopfer, der Tatablauf, die Ermittlungen und die Auswirkungen auf die Familie. Weiter nehme ich dann zu einigen allgemeinen Aspekten des Verfahrens Stellung und komme schließlich zu ausgewählten Punkten, die Angeklagten betreffend, die einen Bezug zur Ceska-Mordserie aufweisen. Es geht dabei um Einschätzungen, die mir wichtig erscheinen und die bei den bisherigen  Schlußvorträgen entweder keine oder nur eine untergeordnete Rolle  spielten oder solche, die sich aus meiner Sicht etwas anders darstellen.

A. Warum Rostock? Warum Mehmet Turgut? Wer war Mehmet Turgut?

Es wurde in den bisherigen Schlußvorträgen bereits einiges dazu gesagt,  wie schwierig es im Rahmen der Aufklärung war, zu ermitteln, wonach  die Tatorte und die Tatopfer von den Mördern ausgewählt wurden.  Diese Fragen sind Hauptfragen der Hinterbliebenen der Opfer der kaltblütigen  Morde. Während die GBA mit großem Aufwand ermittelt hat und die Taten gerichtsfest machte, blieben diese Fragen weitgehend ungeklärt. Dies auch nicht zuletzt wegen des beharrlichen Schweigens BZs, das nur durchbrochen wurde von dürren, zurechtgezimmerten Erklärungen,  alles vorsichtig entlangtastend an dem, was ohnehin bereits aufgedeckt  worden war oder BZ vorteilhaft erschien.

1. Zuerst zur Frage: Warum Rostock-Toitenwinkel?

a) Die Auswahl Rostocks als Tatort ist aus meiner Sicht im Vergleich zu  den anderen Tatorten der Ceska-Mordserie eine Besonderheit. Während  die acht anderen Tatorte im ehemaligen Westen Deutschlands liegen, ist  mit Rostock der einzige Tatort eines Mordes im ehemaligen Ostteil  Deutschlands zu verzeichnen. Ich gehe davon aus, daß dies kein Zufall ist. Kein Zufall wie bei den anderen  Tatorten der Mordserie. Während die anderen Mordtaten zwar  auch nach einem relativen Zufallsprinzip geschahen, wurden dafür im  ehemaligen Westteil liegende Städte offenbar gezielt deshalb ausgewählt,  weil es dort jeweils eine größere türkische Gemeinschaft gab.  Dann wurden diese Städte zielgerichtet aufgesucht und zunächst „lohnende  Objekte“ ausgespäht, was im Verlaufe des Verfahrens mit umfassenden  Kartenausschnitten mit entsprechenden Anmerkungen UBs/UMs  und mit Objektlisten dokumentiert wurde.  Anders Rostock.  Zunächst muß herausgestellt werden: Der Tatort Rostock-Toitenwinkel,  Neudierkower Weg 2, ist selbst für in Rostock Wohnende weit abgelegen.
Der Zeuge KOK Minx sagte hier am 49. HVT (23.10.2013) aus:

„Ich  bin als Einheimischer noch nie an diesem Ort gewesen, der ist so was  von abgelegen. Nur wer da wohnt, kommt da vorbei.“ Und: „Das sind  auch Überlegungen, die wir angestellt haben: Was sucht jemand hier?  Wir hatten keine Erklärung dafür.“ (aaO.).

Es gab weder in diesem Stadtbezirk, noch aber auch bezogen auf ganz  Rostock im Jahr 2004 eine größere türkische Gemeinschaft.  In Rostock gab es 2004 bei knapp 200.000 Einwohnern gerade einmal  6.745 Ausländer und nur 260 Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit  (so das Statistische Jahrbuch der Hansestadt Rostock 2005). Diese  Gruppe der türkischen Staatsangehörigen bildete im zahlenmäßigen Bezug auf Einzelgruppen von Ausländern in Rostock eine völlig untergeordnete  Anzahl. Selbst wenn noch einige weitere Personen mit türkischem  Migrationshintergrund hinzugerechnet würden, die nicht in dieser  Statistik verzeichnet waren, weil sie einen deutschen Paß hatten oder  sich ungemeldet aufhielten, handelte es sich dabei um einen verschwindend  kleinen Teil, der es noch nicht einmal in den Promillebereich  schaffte – überhaupt nicht vergleichbar mit den anderen Tatortstädten  der rassistisch motivierten Ceska-Morde: Nürnberg, München, Hamburg,  Dortmund, Kassel.

Zwar gab es auch zu Rostock Ausspähdaten, wie bereits OStAin Greger  bemerkte, jedoch paßten diese nicht ansatzweise zum späteren Tatort  und enthielten überdies auch keinen Bezug zu türkischen Geschäften  oder Einrichtungen. Diese Ausspähdaten auf Karten oder Ausdrucken  betrafen ersichtlich Banken und Sparkassen, auch räumlich weit entfernt  vom Stadtteil Rostock-Toitenwinkel. Dies bestätigte am 46. HVT  (15.10.2013) der Zeuge KOK Glock, der Kartenmaterial und Adreßlisten  ausgewertet hat. Auch stammten die Map-&-Route-Kartenausdrucke zu  Rostock offenkundig erst aus dem Jahre 2006, also zwei Jahre nach  dem Mord an Mehmet Turgut (Ass. 2.9.23.3; Vermerk vom 10.12.2011,  SAO 305, Bl. 305 ff.).

MV ist das einzige Bundesland, in dem der NSU Menschen ermordete  und auch Banküberfälle beging (hier: Rostock, Ceska-Mord am  25.02.2004 und Stralsund, Überfälle auf die Sparkassenfiliale, Kleine  Parower Straße 51 – 53 am 07.11.2006 und 18.01.2007).

b) Selbst aus Sicht rassistischer Neonazis, die ihre Morde für den „Erhalt  der deutschen Nation“ vornahmen (so im sog. Bekennervideo – z. B. in  der Vorgängerversion vom 28.10.2001, SAO 597, Bl. 200) und die das  Ziel hatten, türkische Gemeinschaften in Deutschland durch willkürliche  Morde zu verunsichern, – selbst aus deren Sicht würde man nicht vom  abstrakten Landesteil- oder Stadtplanstudium her auf Rostock-  Toitenwinkel kommen. Hier gibt es offensichtlich einen anderen Bezug, das persönliche Wissen  um den Tatort aus früherer Zeit von mindestens einer der drei untergetauchten  Personen, die das NSU-Trio bildeten. Eine(r) oder mehrere der  Drei hat/haben den Dönerimbiß von früher her persönlich wahrgenommen  und die dortige Gegend aus eigener Wahrnehmung gekannt. Den  Dönerimbiß gab es dort seit Beginn der 1990er Jahre, wie es sich aus  einem Befragungsprotokoll vom 17.03.2004 entnehmen läßt, in dem  zwei Stammgäste befragt wurden, die diesen Imbiß regelmäßig („mindestens  viermal wöchentlich“ bzw. „eigentlich täglich“) seit 1990 besuchten  (Altakte Turgut, Bd. I, Bl. 152, 156 ff., 159 ff.).  Mindestens eine(r) der Drei ist in seinem/ihrem Leben vor dem Untertauchen  (1998) bereits an diesem Ort gewesen und erinnerte sich daran,  daß dort ein Dönerimbiß stand, betrieben von türkischstämmig aussehenden  Menschen.  Dieser am Rande eines Plattenbauviertels freistehende und vereinzelte  Dönerimbiß muß als so prägnant störend empfunden worden sein, daß  die drei Mitglieder des NSU dafür sogar Abweichungen von der sonstigen Art der relativen Zufallsauswahl ihrer Opfer in Städten mit großen  türkischen Gemeinschaften in Kauf nahmen.

c) Maßgeblich für einen persönlichen Bezug erscheinen mir hier zwei  Aspekte:
aa) Zum einen hatte UB dorthin einen verwandtschaftlichen Bezug. In  Rostock-Toitenwinkel in der Pablo-Picasso-Straße 1 (knapp 1 km vom  Tatort entfernt) wohnte seit 1991 seine Cousine (S. M.), die er  dort auch besucht hat. Seine Mutter, die Zeugin Brigitte Böhnhardt, sagte  hier am 58. HVT (20.11.2013) etwas naiv aus, ihre Nichte habe „das böse  Pech“ gehabt, in Rostock ausgerechnet in dem Stadtteil gewohnt zu  haben, „wo der Mord stattgefunden“ hat. Die Familie Böhnhardt ist früher  auf dem Weg in den Urlaub auch mal bei ihrer Nichte vorbeigefahren.  Aus meiner Sicht handelt es sich hier weniger um „böses Pech“, als  vielmehr um eine Schnittstelle zum späteren Tatort.
bb) Zum anderen wohnte seit März/April 1994 bis Ende der 1990er Jahre  eine Person im unmittelbarem Umfeld des späteren Tatortes, die auf der  hier eingesehenen, am 26.01.1998 sichergestellten sog. Garagenliste  (Ass. 59.52.3.1) von UM notiert worden war.  Der Ausschnitt auf der Garagenliste zu dieser damals in Rostock lebenden  Person lautet:
Rostock1 Wismarsche Str. 60 M. H. 0381 / ….
Rostock Mar. & Mar. 0381 / ….
Rostock M. H. Wohn. 0381 / …
Diese Person – damaliger Name: M. H. – räumte in einer Vernehmung  beim BKA ein, mit allen dreien (UB/UM/BZ) 1994/95 in Rostock  Silvester gefeiert zu haben. Daß die Drei seine Wohnung in der  Pablo-Neruda-Straße aufgesucht haben, hielt er für „durchaus möglich“  (ZV M. B., geb. H. vom 30.10.2012, SAO N 05).  Leider war die (einzige) Vernehmung des Zeugen B./H. durch  das BKA nicht besonders genau. Zwar wurde er nach seiner früheren  Wohnung in der Pablo-Neruda-Straße gefragt (SAO N 05, Aussage vom  30.10.2012, Bl. 2), allerdings nicht einmal nach der Hausnummer. Andererseits  liegt der GBA die Angabe dazu aus der Personalakte des Bundesverteidigungsministeriums  vor. Danach handelt es sich um die Haus-  Nr. 14. Die damalige Freundin des M. H., die in der Garagenliste  vermerkte Mar. (von keiner Behörde bislang befragt) war mit geringem  Aufwand zu ermitteln. Soweit allerdings in den Medien teilweise  berichtet wurde, diese Person habe zeitweise bei der Landtagsfraktion  der NPD im MV gearbeitet, ist dies meiner Erkenntnis nach unzutreffend  und beruht auf einer Namensähnlichkeit. In einem Telefonat bestätigte  die auf der Garagenliste stehende Mar. diese Hausnummer und daß  es sich um die Wohnung im 1. oder 2. Stock handelte und diese Wohnung  Fenster nach vorn und nach hinten hatte. Wenn man nach vorn  vom Fenster der Wohnung linkerhand heraussieht, sieht man in nur  230 m Entfernung direkt den späteren Tatort! Diese Freundin wohnte  nach eigener Aussage selbst im Jahre 1996 einige Zeit in dieser Wohnung  in der Pablo-Neruda-Straße 14 und konnte auf Vorhalt auch die Telefonnummer  der Garagenliste unter „…..“ bestätigen. Sie kannte UB/UM/BZ auch persönlich und war auch bei der gemeinsamen Silvesterfeier 1994/95 mit dabei. Bei einer  gründlichen Auswertung der sog. Garagenliste hätte sich über den  Rückbezug der Telefonnummer bei den Ermittlungsmöglichkeiten der  Kriminalpolizei die dazugehörige Wohnung schnell ermitteln lassen. Wäre  ein rechtsextremes Mordmotiv nicht gleich ausgeschlossen worden,  hätte zumindest die Möglichkeit bestanden, diese Schnittstelle zu erkennen:  untergetauchtes rechtsextremes Trio mit Kennverhältnis zu Personen  in unmittelbarer Tatortnähe. Ich spreche ausdrücklich nur von einer  M ö g l i c h k e i t . Es ist schwer, konkret zu adressieren, wer diesen  Bezug hätte herstellen sollen. Die Ermittler in MV kannten die sog. Garagenliste  damals nicht und die Thüringer Ermittler hatten diese damals  tief in den Akten belassen. Es hätte sicher aus deren Sicht großer Anstrengung  bedurft, einen Bezug zur Mordserie herzustellen. Allerdings  hätte es sich gelohnt, die Garagenliste intensiv auszuwerten. Daher halte  ich es für eine reale Möglichkeit, wenn man all die Untersuchungsrichtungen  sieht, die tatsächlich eingeschlagen wurden und von denen auch  nicht alle unbedingt naheliegend waren. Über die erwähnte Rostocker Silvesterfeier 1994/95, an der UB/UM/BZ  und auch die auf der Garagenliste vermerkten Personen M. und  Mar. teilnahmen, berichtete auch der Zeuge Tom T. am  213. HVT (07.10.2015). Ihm wurden dazu auch Fotos zu diesem Personenkreis  in einer Rostocker Wohnung vorgelegt (Beigezogene Akte der  StA Gera, Az.: 114 Js 20864/96, Bd. 1, Bl. 62 ff.).

cc) Hinzu kommt, wer von dem Wohngebiet mit öffentlichen Verkehrsmitteln  in die Innenstadt wollte, tat dies mit der Straßenbahnlinie Nr. 1. Auf  dem Weg zur nächstgelegenen Haltestelle kam man am späteren Tatort, dem Dönerimbiß, vorbei. Dies bestätigte auch der Zeuge KOK Minx am  49. HVT (23.10.2013). Auch dies legte nahe, daß es sich eher um Täter  handeln würde, die bereits irgendeinen konkreten Bezug zu dieser Gegend  hatten.
dd) Somit ist es für mich sehr naheliegend, daß mindestens eine(r) der  Drei – wahrscheinlich aber alle drei – den Tatort in Rostock-Toitenwinkel  aus e i g e n e r früherer Wahrnehmung kannte(n).
ee) Zu dieser Thematik hatte ich umfangreich konkrete Fragen an BZ  gerichtet (295. HVT, 06.07.2016, Frageliste RA Langer, unter A. 7. und  B. 3.). BZ könnte deutlich Licht ins Dunkel bringen, dazu war sie bisher  nicht bereit. Ihre Aussagen zu den Ceska-Mordtaten sind weitgehend  abstrakte Beschreibungen bei völliger Detailarmut oder die völlige Verweigerung  von Antworten.

d) Auffällig anders – im Vergleich zu den übrigen Ceska-Mordtaten – ist  das Fehlen jeglicher Ausschnitte aus Zeitungen zu diesem Ereignis. Weder  wurden solche in der Frühlingsstraße 26 gefunden, noch sind solche  im sog. Bekennervideo verarbeitet. Dies bestätigte hier der Zeuge KHK  Grimm am 42. HVT (02.10.2013; Vermerk vom 28.03.2012, SAO 142,  Bl. 228, 231 unten). Die dort im Video in der Schlußfassung (Paulchen-  Panther-Fassung) unter der sog. „Deutschlandtour“ zum fünften Mord  neben dem Foto von Mehmet Turgut eingestellte Zeitungsüberschrift  „Rätsel um Morde“ entstammt – offenbar in Ermangelung einer „passenden“  Berichterstattung zum Rostocker Mord – einem Artikel der „Nürnberger  Nachrichten“ vom 10.11.2001 zu den ersten vier Mordopfern  (Ass. 2.12.377.50 – Der Untertitel: „Bereits vier Bluttaten bekannt“ ist im sog. Bekennervideo derart abgedeckt, daß nur das Wort „Bluttaten“  sichtbar ist.).  Das Fehlen von Zeitungsartikeln in diesem Fall ist jedoch erklärbar. Zum einen werden die Täter nicht den nächsten Tag in Rostock abgewartet  haben, da sie nach Chemnitz zurückfuhren, weil das unter dem Namen HG angemietete Wohnmobil wieder abgegeben werden mußte. Eine  „Ostsee Zeitung“ oder sonstige Zeitung mit einem Rostocker Lokalteil  war offenbar in Zwickau nicht zu erlangen, anders als etwa Kölner,  Nürnberger, Hamburger oder Münchner Zeitungen.  Außerdem berichtete die Lokalpresse in Rostock am Folgetag weitgehend,  daß es sich bei der Tatwaffe um ein Messer gehandelt hätte bzw.  Schläge die Todesursache gewesen wären. Solche Überschriften bzw.  Artikel hätten aus Sicht der Täter nicht den Zusammenhang zur Ceska-  Mordserie hergestellt und wären somit nicht zweckgerichtet verwendbar  gewesen (etwa: „Bild“ vom 26.02.2004: „Messer-Mord in der Dönerbude“,  „Ostsee Zeitung“ vom 26.02.2004: „25-jähriger Türke starb nach  brutalen Schlägen“; alle in Altakte Turgut, Bd. I, nach Bl. 415 „Presse“).

e) Weiterhin gab es Besonderheiten im konkreten Ablauf der Mordtat. Es  ist der einzige Fall, der in einem Wintermonat stattfand. Es ist der einzige  Fall der neun Morde, bei dem nicht der Geschäftsinhaber selbst getötet  wurde. Und während in den anderen Fällen der Ceska-Mordserie UB/UM  dem jeweils in seinem Geschäft stehenden Opfer sofort in den Kopf  schossen, ergibt sich am Tatort in Rostock ein deutlich davon abweichendes  Bild. Offensichtlich wurde Mehmet Turgut (sehr wahrscheinlich unter Vorhalt  einer Schußwaffe) zunächst gezwungen, sich vollständig auf den Boden  zu legen. Dort wurde er dann kaltblütig mit drei Schüssen hingerichtet,  wobei ein weiterer Schuß das Opfer verfehlte. Denn es gab hier keinerlei  Blutspuren in Kopfhöhe. Der am Tatort eingetroffene Zeuge KOK Minx  sagte hier am 49. HVT (23.10.2013): „Drei Einschüsse im Boden, … liegen  eng beieinander. … Auffällig war, daß Blut nur auf dem Fußboden  war.“  Es wurde angesichts zweier Besprechungen zwischen dem LKA MV und  den beiden Obduzenten Prof. Dr. Wegener und Dr. Zack vom 22.02. und  21.03.2007 festgehalten, daß aus Sicht der beiden Gerichtsmediziner  „die wahrscheinlichste Variante“ ist, daß „alle vier Schüsse auf das liegende  bzw. sich in bodennaher Position befindliche Opfer von dem  darüberstehenden Täter abgegeben wurden“. Dafür spräche „das enge  Trefferbild (alle vier im Kopfbereich)“ und „das Fehlen von Blutspuren in  Kopfhöhe bzw. im Bereich der waagerechten Flächen (Verkaufs- und  Zubereitungstisch)“, die bei einem stehenden Opfer „in diesen Bereichen  zu erwarten gewesen“ wären (Altakte Turgut, Bd. V, Bl. 202). Prof. Dr.  Wegener wurde hier auch am 32. HVT (06.08.2013) gehört.  Eine konkrete Erklärung für diese Abweichungen im Modus Operandi  könnte allein BZ mitteilen.

f) Einige Worte zur kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit in Rostock:

aa) Die Ermittlungsarbeit der Rostocker Kriminalpolizei war davon geprägt,  daß sie zwar sehr intensiv und von einem deutlichen Aufklärungswillen getragen war, aber letztlich schon ganz zu Beginn ein bedeutender  Ermittlungsbereich ausgeklammert wurde. Wie wir heute wissen, der  entscheidende.  Dabei neige ich nicht dazu, deshalb den Rostocker Ermittlern im einzelnen  Rassismus vorzuwerfen oder gar einen solchen institutionalisiert zu  sehen. Mit großem Aufwand wurden Spuren verfolgt, so wurden nahezu  alle Hotel-/Beherbergungsbuchungen in Rostock und Umgebung überprüft,  dazu Fähr- und Flugpassagierdaten, Verkehrsunfalldaten, Einwohnermeldedaten,  um Schnittstellen zu finden (vgl. BT-UA, Bericht DS  17/14600, S. 594, re. Spalte). Es wurden ferner Daten von Personen  ausgewertet, die innerhalb dreier Tage vor dem Mord in Rostock in einen  Verkehrsunfall verwickelt waren. Es wurden später auch noch sämtliche  Meldedaten über Zu- und Wegzüge zwischen Rostock und den anderen  Tatortstädten der Ceska-Mordserie zwischen 1960 und 2007 ermittelt  und ausgewertet, schließlich auch Funkzellen- und Telefondaten (Altakte  Turgut, Abgabebericht LKA MV vom 10.01.2012, S. 14 ff.). Dies alles ist  nur ein kleiner Ausschnitt der umfangreichen Ermittlungsmaßnahmen.  Es wurden auch umfangreiche Ermittlungen im Umfeld des Opfers und  des Imbißbetreibers geführt. Die Ermittlungen gingen schon sehr an die  Grenzen des Erträglichen für Haydar Ay., den Inhaber des Dönerimbisses,  in dem Mehmet Turgut mit ausgeholfen hatte, als er ermordet  wurde. Er sagte hier am 49. HVT (23.10.2013) aus, daß er sich wie ein  Angeklagter behandelt fühlte, da er stundenlangen Verhören unterzogen  wurde. Wegen des schrecklichen Ereignisses konnte er sein Geschäft an  der dortigen Stelle nicht mehr weiterführen. Der Imbißcontainer wurde am 28.08.2007 vollständig abgebaut (Vermerk LKA MV, AA Turgut,  Band 5, Bl. 274).
bb) Bedauerlicherweise wurde schon früh die Ermittlungsrichtung rechter  bzw. fremdenfeindlicher Hintergrund eingestellt, ohne daß dies plausibel  erläutert werden konnte. Der Zeuge KHK Scharen, Ermittlungsleiter in  Rostock, hatte nur eine Woche nach der Tat einen Vorschlag für eine  Veröffentlichung in türkischen Printmedien gemacht und dabei festgehalten:  „Ein ausländerfeindlicher Hintergrund kann derzeit ausgeschlossen  werden.“ (Vermerk vom 04.03.2004, Altakte Turgut, Bd. I, nach Bl. 396,  Presse). Auf entsprechenden Vorhalt sagte er hier am 49. HVT  (23.10.2013) aus, daß man davon ausgegangen sei, weil Staatsanwaltschaft,  Staatsschutz, LKA, LfV MV in mündlichen Besprechungen nichts  in dieser Richtung geäußert hätten. Diese Begründung ist fraglich, da  diese Stellen offenkundig kurz nach der Tat in keine Richtung im Sinne  einer Motivforschung etwas hätten unterstreichen oder ausschließen  können. Daher war das Ausklammern einer wesentlichen Richtung –  hier: ein fremdenfeindlicher Hintergrund der Tat – im Sinne kriminalistischen  Denkens nicht angezeigt. Auch ist der gesamten Altakte Turgut  nicht zu entnehmen, welcher Mitarbeiter der vorgenannten Behörden –  Staatsanwaltschaft, Staatsschutz, LKA, LfV MV – konkret auf welche Unterlagen  oder Informationen zurückgegriffen hat, um eine Bewertung zur  Frage eines fremdenfeindlichen Hintergrunds vornehmen zu können.  Weiter ist zu beachten, daß das Ergebnis der Untersuchung zu der gefundenen  Munition, mit der Mehmet Turgut umgebracht wurde, schon  zwei Wochen nach dem Mord, am 11.03.2004, vorlag (Sachstandbericht  vom 24.03.2004, Altakte Turgut, Bd. II, 212 ff., 225). Dieses Ergebnis zeigte auf, daß bereits vier türkischstämmige Geschäftsleute mit derselben  Waffe ermordet worden waren. Spätestens jetzt hätten die Ermittlungen  nochmals neu durchdacht werden müssen. Da zum damaligen  Zeitpunkt alle fünf Opfer türkischstämmig waren, konnte doch jedenfalls  jetzt die erneute ergebnisoffene Prüfung nicht dazu führen, daß ein  fremdenfeindliches Motiv von vornherein ausgeschlossen werden konnte.  Auch der Verfügung der StA Rostock, etwa fünf Wochen nach dem  Mord, vom 01.04.2004 (Altakte Turgut, Bd. II, Bl. 276, 277), also noch  sehr zu Beginn der Ermittlungen, zeigt, daß hier eine fehlerhafte Weichenstellung  erfolgte, die dann nicht mehr korrigiert wurde. Es heißt dort:

„Auch bei dem hier vorliegenden Mord gibt es keine Anhaltspunkte  auf eine Raubstraftat, ein politisches bzw. religiöses Motiv  bzw. hinreichende Hinweise auf eine mögliche Beziehungstat  (z.B. Blutrache) … ; dafür liegen aber Hinweise auf eine international  operierende Rauschgiftbande vor.“

Es ist aus der Altakte Turgut jedoch nicht erkennbar, auf welche Art „international  operierende Rauschgiftbande“ sich hier bezogen wird. Auch  gab es insbesondere keine Rauschgiftbezüge zum ermordeten Mehmet  Turgut oder zum Imbißbetreiber Haydar Ay..  Bei den Ermittlungen hätte jedoch beachtet werden sollen, daß der Imbißkiosk  am 17.09.1998 ausgebrannt ist und ein Mitarbeiter der Feuerwehr  Brandstiftung vermutete. Circa 3 Monate zuvor gab es am  13.06.1998 direkt vor dem Imbißcontainer eine Prügelattacke auf den Inhaber von vier konkret festgestellten Personen, gegen die auch aktenkundig  ermittelt wurde. Diese Attacke hätte durchaus Ihren Ausgangspunkt  in einer fremdenfeindlichen Motivation gehabt haben können. Dies  läßt sich einem Schreiben des Rechtsanwaltes des damalig Geschädigten  und hier gehörten Zeugen Haydar Ay. vom 02.05.2001 entnehmen.  Darin zitiert er u. a. die Aussage eines Zeugen aus den Ermittlungsakten  der Staatsanwaltschaft Rostock wie folgt:

„… der Kioskbetreiber, Herr Ay. sprach die vier [Personen] …  an und meinte in seinem gebrochenen Deutsch, daß er die Kioskfläche  gemietet hätte und die Gäste nicht ihre mitgebrachten  Getränke dort trinken sollten. Dies sollten diese vier doch woanders  tun. Herr Ay. blieb dabei höflich. Daraufhin antwortete  der Älteste von den Vieren … : ´Du hast uns nichts zu sagen.  Du bist ja noch nicht einmal ein Deutscher´ … Aufgrund der  dumpfen ´Schläge´, die ich vernommen hatte, begab ich mich  um den Kiosk herum und sah, daß dieser Ältere von den Vieren  auf Herrn Ay. ca. zwei- bis dreimal mit der Faust in sein Gesicht  schlug. Als ich in Richtung der Schläge gegangen war,  folgte mir gleichzeitig einer der beiden Jüngeren dieser Viermanngruppe.  Dieser mischte sich jetzt in die Auseinandersetzung  zwischen Herrn Ay. und dem Älteren ein und schlug mit  der Faust ca. drei- bis viermal zu. … Herr Ay. blutete aus der  Nase und ein bißchen aus dem Ohr. …“

Merkwürdigerweise waren diese Vorgänge bei der in MV im Juni 2006  gegründeten Soko „Kormoran“ in der Abteilung „Finanzermittlungen“ abgelegt (LKA MV Abt. 4 Soko Kormoran, StA Rostock, Az.: 433 Js  5559/04).  Ich habe in Karlsruhe bei der GBA die nicht zu diesem Verfahren beigezogenen  Akten der Rostocker Ermittlungen eingesehen und bin dabei  u. a. auf das vorzitierte Schreiben des damaligen Rechtsanwaltes des  Imbißbetreibers gestoßen. Mein Antrag an die GBA, mir entsprechende  – konkret bezeichnete – Auszüge aus diesen Akten zuzusenden, die  Ausgangspunkt für weitere eigene Recherchen hätten sein sollen, wurde  leider abschlägig beschieden.  Unabhängig davon, ob Ermittlungen zu diesem Ereignis zu UB/UM/BZ  geführt hätten, das Beispiel zeigt, daß ein Ansatz für Nachforschungen in  Richtung fremdenfeindlicher Hintergrund gegeben war, jedenfalls durfte  ein solcher nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

2. Nun komme ich zur Frage: Warum Mehmet Turgut?

a) Daß nun konkret Mehmet Turgut am 25.02.2004 das Opfer des  Mordtrios geworden ist, liegt aus meiner Sicht an einem zufälligen Umstand,  den ein Außenstehender nicht kennen konnte. Einen Tag zuvor  versprach Mehmet Turgut dem Betreiber Haydar Ay., am Tattag früh  den Kiosk vorzubereiten, denn der Betreiber würde selbst etwas später  kommen, weil er am Vormittag des 25.02.2004 noch Einkäufe für den  Imbiß im Großmarkt tätigen wollte. Der Zeuge Haydar Ay. gab hier am  49. HVT (23.10.2013) an, daß er normalerweise den Imbiß ganz allein  betrieben hat. Dieser Umstand war auch der Rostocker Kriminalpolizei bekannt. Sie  folgerte, daß sich möglicherweise die Tat gegen den Betreiber Haydar  Ay. gerichtet haben könnte, der ja sehr kurzfristig und nicht vorhersehbar  zum Tatzeitpunkt am Tatort abwesend war. Aus der Tatsache,  daß demnach dann der kurzfristig „vertretungshalber“ anwesende Mehmet  Turgut ermordet wurde, hat man eine Verwechslung in Betracht gezogen.  Diese war aber angesichts der offenkundigen Unterschiede der  Personen Haydar Ay. und Mehmet Turgut ausgeschlossen. Ersterer  war untersetzt und kräftig, letzterer war sehr schlank und sportlich. Haydar  Ay. war auch 19 Jahre älter – somit konnte eine Verwechslung  ausgeschlossen werden. Es gab auch die These, die Tötung des Mitarbeiters  des Betreibers hätte ein – so wörtlich – „Druckmittel“ gegen den  Betreiber sein können (Sachstandsbericht vom 24.03.2004, Altakte Turgut,  Bd. II, 212 ff., 230). Dies ist aber schon nach kurzer Überlegung  fernliegend. Wenn ein Serienmörder bisher vier türkischstämmige Geschäftsleute  umgebracht hat und sich dann zum Geschäftsort des fünften  begibt und nicht wissen kann, daß hier gerade der Inhaber abwesend  ist, für diesen nur jemand kurzfristig aushilft, dann ist es doch abwegig,  daß der Täter jetzt sein Motiv wechselt und nicht den Geschäftsmann  selbst umbringen will, sondern den Mitarbeiter, um Druck auf den Geschäftsmann  auszuüben. Dies könnte bei einem Einzelfall noch nachvollziehbar  erscheinen, aber doch nicht bei einer Serie. Hier konnte also  leicht erkannt werden, daß es dem Täter eben prinzipiell nicht darauf ankam,  wer gerade im Geschäft arbeitete. Dadurch hätte man leicht darauf  kommen können, daß sich die Mordserie nicht gegen die konkret ausgewählten  Geschäftsleute richtete. Dem kam die Kriminalpolizei auch schon sehr nahe, wenn im selben  Sachstandbericht (aaO.) vermerkt wird:

„In Wertung aller bisherigen Erkenntnisse ist mit sehr großer  Wahrscheinlichkeit am ehesten davon auszugehen, daß Haydar  AY. getötet werden sollte und Yunus TURGUT ein sogenanntes  ´Zufallsopfer´ ist.“

Nun hätte man sich doch nur die Frage stellen müssen, warum wählt der  Täter Geschäftsorte aus, richtet seine Morde aber gerade nicht unbedingt  gegen den Geschäftsinhaber, sondern gegen den, den er gerade  dort antrifft. Insbesondere wenn – wie hier – ein so kurzfristiger Personenwechsel  stattfand, daß der Täter dies nicht wissen konnte. Angesichts  der Tatsache, daß auch die ersten vier Opfer einen türkischstämmigen  Hintergrund hatten und hier ein erkennbares Zufallsopfer mit  demselben Merkmal gegeben war, wäre es zur These eines fremdenfeindlichen  Motivs kein sehr weiter Weg.  Es soll noch darauf verwiesen werden, daß der Betreiber Haydar Ay.  gegenüber einem türkischen Polizisten, der in die Ermittlungen eingebunden  war und zu dem er Vertrauen hatte, umfassend mit diesem über  das mögliche Motiv gesprochen hat. Er schloß dabei aus, daß es sich  gegen ihn als Person oder als Inhaber des Geschäfts gerichtet haben  könnte, da er leicht erreichbar gewesen wäre. Er vermutete vielmehr,  daß – so wörtlich – „ein kranker Deutscher“ die Tat begangen habe  (Vermerk vom 27.04.2007, Altakte Turgut, Bd. V, 241 ff., 243).

b) Der 25. Februar 2004 war ein naßkalter Wintertag, um 3 Grad Celsius  (Altakte Turgut, Abgabebericht LKA MV vom 10.01.2012, S. 4). Zwischen  9:30 Uhr und 10:00 Uhr kochte Mehmet Turgut Kaffee, setzte das  Dönerfleisch an und begann, es im Drehspießofen zu erwärmen. Er bediente  noch den Zeugen Kel., jemand der öfters den Imbiß aufsuchte  und der dort ca. um 10:00 Uhr einen Kaffee trank, und sich dann  entfernte, ohne daß ihm etwas Besonderes auffiel, wie er hier am 49.  HVT (23.10.2013) bekundete. Um etwa 10:10 Uhr oder einige Minuten später öffnete jemand plötzlich von außen die nicht für Kunden bestimmte seitliche Eingangstür zum Kiosk. Mehmet Turgut blickte in eiskalte Augen und in eine Pistolenmündung, die ihm direkt vor das Gesicht gehalten wurde. Dumpf und bestimmt  rief diese Person ihm zu „Runter! Runter! Runter!“ und bedeutete  unmißverständlich, daß Mehmet Turgut sich auf den Boden legen sollte,  was dieser überrascht und erschrocken auch tat. Dann nahm er noch  eine weitere Person wahr, die der ersten zum Verwechseln ähnlich sah.  Beide standen jetzt über ihm. Die zweite Person richtete eine mittelgroße  Plastiktüte auf ihn, in der sich seine Hand befand. Es ist unklar, ob die  beiden Personen selbst überrascht waren, da sie möglicherweise am  Vortag oder zu einem anderen Zeitpunkt die Gegend nochmals ausgekundschaftet  und eigentlich eine andere Person erwartet hatten. Somit  kann es einen kurzen Wortwechsel zwischen diesen beiden Personen  gegeben haben, den Mehmet Turgut nicht verstand. Mehmet Turgut  wußte nicht, daß diese Personen seinen Tod beschlossen hatten; sein  einziger „Fehler“ war, türkisch auszusehen. Zuletzt wandte er – weiter  auf dem Boden liegend – sein Gesicht von den beiden etwas ab und hörte  noch das metallisch gedämpfte Geräusch des Todes. Denkbar wäre aber auch, daß eine dritte Person, diese zierlicher und  kleiner als die anderen beiden, mit zugegen war und die anderen beiden  Mehmet Turgut mit Waffengewalt aufforderten, sich hinzulegen, damit  diese dritte Person, sichtlich ungeübt im Umgang mit dem Gegenstand in der Plastetüte, Schüsse abgeben konnte. Der erste Schuß verfehlte das  Opfer, der zweite traf in den Nacken. Schnell riß einer der ersten beiden  der dritten Person die Plastiktüte mit dem Gegenstand aus der Hand,  wobei eine Hülse aus dem Plastikbeutel herausfiel und unter dem Kühlschrank  landete. Dann gab er selbst noch zwei geübte Schüsse auf  Mehmet Turgut ab, die ihn in den Kopf und in den Hals trafen.  Danach entfernten sich die Personen schnell. Der ganze Vorgang hat  keine fünf Minuten gedauert.  Auch das Wohnmobil, das für An- und Abreise genutzt wurde, hätte drei  Personen ausreichend Platz geboten.  So oder ganz ähnlich müssen die letzten Minuten von Mehmet Turgut  verlaufen sein.  Auch dazu könnte BZ mit Sicherheit genaue Details benennen, aber sie  war bislang nicht bereit, dazu mehr zu sagen, weder von sich aus, noch  auf Fragen hierzu. Möglicherweise aus gutem Grund!

3. Wer war Mehmet Turgut?

Für seine Mutter Berivan und seinen Vater Mehmet Hanifi Turgut war er  der Stolz: der älteste Sohn; er trug den Namen seines Vaters. Für meine  Mandantinnen Cihan und Fatma Turgut war er immer der große Bruder,  ebenso wie für die weiteren Nebenkläger Yunus, Mustafa und Ahmet  Turgut. Auch Mehmet Turgut liebte seine Familie über alles.  Mehmet Turgut war ein guter Sohn und ein beliebter und geschätzter  Bruder. Er war liebenswert und lebensfroh, ein ruhiger, nachdenklicher  junger Mensch, der ein herzliches Lachen und warme Augen hatte. Er  war sportlich, spielte oft und gern Fußball.  Er war nach Deutschland gekommen, um hier den Versuch zu machen,  sein Glück zu finden. Er träumte davon, später eine Frau kennenzulernen  und Kinder zu haben, eine eigene Familie. Schnell erkannte er, daß  das Leben in Deutschland für ihn nicht einfach war. Bei Bekannten kam  er jeweils kurze Zeit unter. Bei einem Bekannten seines Vaters, dem hier  gehörten Zeugen Haydar Ay., half er zuletzt in dessen Dönerimbiß  „Mister Kebab Grill“ in Rostock-Toitenwinkel aus. Dies wurde ihm zum  Verhängnis. Es war ein furchtbarer Schlag, als die Familie 2004 die Nachricht erhielt, ihr Sohn bzw. Bruder sei im fernen Deutschland wenige Tage vor seinem  27. Geburtstag gestorben. Schlimmer noch: Er wurde nach Art eines  Auftragskillers durch zielgerichtete Schüsse in den Kopf hingerichtet. Als  Teil einer blutigen Serie.  Es war jedoch nicht nur der plötzliche, schreckliche, unfaßbare Verlust,  hinzu kam die Frage, die wir hier schon häufig gehört haben: Nach dem  W A R U M ? Diese Ungewißheit hielt Jahre lang an. Sie hatte weitere  schlimme Folgen für die ganze Familie. Da auch türkische Zeitungen  über die weiter fortgesetzte Mordserie und die Art und Weise der Tötungen  berichteten, wurden die Eltern und Geschwister im Kreis ihrer Nachbarn  und Bekannten mißtrauisch angesehen und hinter der vorgehaltenen  Hand kursierten Gerüchte, der Ermordete sei in schwerkriminelle  Kreise geraten, andernfalls könne es ja nicht ein solch gewaltsames Ende  geben. Es hieß: „So wird sonst ja keiner umgebracht.“ Die Familie litt  sehr darunter, daß Nachbarn und Bekannte so etwas von ihrem Sohn  bzw. Bruder denken konnten. Die Eltern hielten schließlich diesen Druck  nicht mehr aus und zogen aus ihrem Dorf weg, das bis dahin in ihrem  gesamten Leben den Mittelpunkt bildete. Als der Vorsitzende den Zeugen  Haydar Ay., der die Familie Turgut gut kannte, zu den Folgen der  Tat befragte, sagte dieser am 49. HVT (23.10.2013): „Sie haben deshalb  viel gelitten und viel geweint.“. Auch der ehemalige Imbißbetreiber Haydar  Ay. selbst ist für sein Leben gezeichnet. Er vermochte es nicht  mehr, am Ort der Tat seine Geschäftstätigkeit fortzusetzen, so daß der  Imbißkiosk erst lange leerstand und schließlich abgebaut wurde. Ihn belastet,  daß Mehmet Turgut an seiner Stelle zu Tode kam und er bei Besuchen  in der Türkei dem ihm gut bekannten Vater des Opfers gegen übertreten mußte und sich für den Tod des Sohnes Mehmet Turgut – so  wörtlich – „irgendwie verantwortlich“ fühlt (Vermerk vom 27.04.2007,  Altakte Turgut, Bd. V, 241 ff., 243).  Dann kam im November 2011 die teilweise Auflösung, die für alle Familienmitglieder  einen weiteren Schock darstellte. Sie konnten es nicht  glauben. Ihr Sohn und Bruder Mehmet Turgut wurde nur deshalb ermordet,  weil er wegen seiner Herkunft nicht in das Weltbild der Mörder paßte,  er wurde völlig willkürlich ausgewählt, nicht als einzelner Mensch,  sondern als Stellvertreter einer Gruppe, auf die die Mörder ihren Haß  projizierten. Aber wieder wurden keine Einzelheiten bekannt.  Hinsichtlich genauer Details zur Planung des Verbrechens und zum genaueren  Ablauf der Durchführung läßt BZ die Angehörigen weiter im  Dunkeln. Auch wenn sie dies aus prozessualer Sicht zulässigerweise  zum Selbstschutz tut, erst ein Garnichts und dann ein taktisch wohldurchdachtes,  anwaltlich formuliertes Nichts vorbringt – sie möge sich  bewußt sein, damit vertieft sie das Leid der Eltern und Geschwister von  Mehmet Turgut.  2014, genau 10 Jahre nach dem furchtbaren Verbrechen, hat die Stadt  Rostock an der Stelle des Tatortes eine kleine Erinnerungsstätte errichtet.  Zwei versetzt gegenüberstehende helle und sehr schlichte Steinbänke  auf gepflastertem Grund geben dem Wunsch Ausdruck, daß Menschen  sich offen und ohne Vorurteil mit Respekt und Empathie begegnen  sollen. Daran erinnert eine Tafel, die – auf türkisch und deutsch –  Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zitiert sowie an  Mehmet Turgut und dessen feige Ermordung an dieser Stelle. Der Familie Mehmet Turguts ist es vor allem wichtig, daß ihr Sohn und  Bruder nicht nur als anonymer „Bestandteil“ der Ceska-Mordserie in Erinnerung  bleibt, sondern als der von ihnen geliebte Mensch!