Institutioneller Rassismus – Die Überbringer schlechter Nachrichten

Im Mittelalter soll es recht beliebt gewesen sein, die Überbringer schlechter Nachrichten zu töten. Da haben eine ganze Reihe von Nebenklagevertretern, die in ihrem Plädoyer von „institutionellem Rassismus“ sprachen, doch noch ziemlich Glück gehabt, werden sie doch nicht getötet sondern ihnen „nur“ die Verunsicherung migrantischer Kreise vorgeworfen. Insbesondere zwei Nebenklagevertreter (Rechtsanwältin Wierig und Rechtsanwalt Prof. Behnke) vertraten nicht nur, dass es keinen institutionellen Rassismus gäbe, sondern behaupteten darüber hinaus, dass eine derartige Analyse den Migranten in Deutschland schade. Zum Plädoyer der Rechtsanwältin Wierig heißt es in der Süddeutschen Zeitung: 

Sie erhebt Vorwürfe gegen andere Opferanwälte. Diese verunsicherten durch ihren Rassismusvorwurf gegen Ermittler die Menschen und trügen dazu bei, die Botschaft des NSU zu verbreiten. Wierig: „Die Botschaft an die Migranten, sie seien ihres Lebens nicht mehr sicher, ist zu meinem tiefsten Bedauern nicht mit dem NSU gestorben. Und diesmal sind es keine rechtsextremen Terroristen, die vermitteln, Deutschland sorge sich nur um die Deutschen, sondern es sind Anwälte und Journalisten.“ Dass nicht in der Neonaziszene, sondern jahrelang in den Opferfamilien ermittelt wurde, sei „kein institutioneller Rassismus“, sondern „Erfahrungssätze der Kriminologie“

Professor Behnke konstatierte zwar immerhin und anders als Rechtsanwältin Wierig unzumutbare polizeiliche Maßnahmen gegenüber den Familienangehörigen des im Februar in Rostock ermordeten Mehmet Turgut, er behauptete aber gleichzeitig: „ Es gibt in Deutschland auch keinen strukturellen oder behördlichen Rassismus“ und „Wer etwas anderes behaupte, stifte Unfrieden und Verunsicherung.“

Was ist institutioneller Rassismus?

Dabei sind die zugrunde liegenden Tatsachen weitgehend unstreitig. Alle Familien, der von den Mordtaten Betroffenen aber auch die Opfer des Nagelbombenanschlags in Köln haben erlebt, dass sie von der Polizei nicht als Familie von Opfern bzw. als Opfer behandelt wurden sondern als potentielle Täter und Mitwisser. Niemand bestreitet ernsthaft, dass es in diesen Ermittlungen (auch) rassistische Vorurteile gegeben hat. Es geht also letztlich nur um die Frage, ob wir es mit individuellen Fehlverhalten einzelner Polizeibeamter zu tun haben oder um ein grundlegenderes Problem. Als institutioneller bzw. struktureller Rassismus wird –nicht erst seit Äußerung von Nebenklagevertretern im NSU Verfahren- sondern schon seit Ende der 60er Jahre ein Verhalten bezeichnet:

„dass rassistische Denk- und Handelsweisen nicht Sache der persönlichen Einstellung von Individuen, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Miteinanders verordnet sind, welche die Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch gegenüber den Nichtdazugehörigen privilegieren.“

 (Wikipedia) Genau ein solches Verhalten hat man allerdings nicht nur an einem, sondern praktisch in allen Mord- und Sprengstoff-Fällen des NSU feststellen müssen. Ich hatte dazu im Rahmen unseres Plädoyers folgendes ausgeführt:

„Aber die Ermittlungen in diesem Verfahren sind gleichzeitig so etwas wie eine repräsentative Umfrage auf den Polizeiwachen der Republik von München bis Hamburg und von Dortmund bis Rostock in vergleichbaren Fällen. Der Gemeinsamkeit der Opfer entsprachen die Gemeinsamkeit der Ermittlungen ohne konkrete Anhaltspunkte in Richtung Beziehungen, Rauchgift, organisierte Kriminalität. Gerade die Übereinstimmung in den Reaktionen der Ermittlungsbehörden quer durch die Republik machen deutlich dass es dabei um ein grundlegendes Problem ging und nicht um Ermittlungspannen hier oder da. Dieses grundlegende Problem als institutionellen Rassismus zu umreißen, halte ich für zutreffend.“

Bisher zumindest hat niemand erklären können, warum es in jedem Einzelfall zu erkennbar rassistischen Ermittlungen kam. In allen Einzelfällen wurde immer von der Polizei konstatiert, dass offenbar die Umgebung und insbesondere auch die Familie der türkischen Opfer nicht ausreichend mit der Polizei kooperiere und einen Teil ihrer Kenntnisse der Polizei vorenthalte. Dies war und ist ein vollständig unberechtigter Vorwurf gewesen, der ausschließlich auf Vorstellung von „Parallelgesellschaft“ und ähnlichem beruht, aber in allen Fällen ohne konkrete Anhaltspunkte war.

Gesundes Mißtrauen gegenüber den Ermittlungen der Polizei hätte Opferfamilien geholfen

Wenn ein größerer Teil von Nebenklagevertretern auf dieses grundsätzliche Problem hingewiesen hat und es „institutionellen (strukturellen) Rassismus“ genannt hat, dann haben sie etwas beschrieben, was in der Sache selbst überhaupt nicht umstritten war und ist. Insofern sind wir also tatsächlich lediglich die Überbringer einer schlechten Nachricht. Dann aber zu behaupten, durch das Überbringen dieser Nachrichten selbst werde Verunsicherung, Unsicherheit, Misstrauen geschürt, geht an der Sache vorbei. Es ist doch umgekehrt: Hätte es bereits während der Ermittlungen in den NSU Fällen ein gesundes Misstrauen gegenüber der Polizei gegeben, ob diese nicht vielleicht einfach rassistisch ermittelt, wären vielen Opferfamilien Leid erspart geblieben. Prof. Behnke vertritt einen Bruder des in Rostock getöteten Mehmet Turgut. In diesem Mordfall ermittelten auch deutsche Polizisten im seinem Heimatdorf in der Türkei. Gerade weil die deutsche Polizei ein besonders hohes Ansehen genoss (auch und gerade im Hinblick auf ihre Objektivität) verbreitete sich unter den Dorfbewohnern sehr schnell die Auffassung, dass Mehmet Turgut offensichtlich doch in größere kriminelle Machenschaften verwickelt sei. Dies führte zur sozialen Isolation seiner Eltern, die sich nach einiger Zeit nicht anders zu helfen wussten als aus dem Dorf wegzuziehen. Ähnliche Erfahrungen mit sozialer Ausgrenzung haben auch andere Opferfamilien gemacht, teilweise kam es sogar zu Streitigkeiten innerhalb der Familien. Wenn wir uns vorstellen, dass seinerzeit im Heimatdorf von Mehmet Turgut ein gesundes Misstrauen gegenüber der deutschen Polizei geherrscht hätte, einschließlich der Berücksichtigung der Möglichkeit, dass diese auch rassistischen Vorurteilen unterliegt, dann hätten sich die Dorfbewohner sehr viel leichter auf ihre Kenntnis und ihr Gefühl gegenüber der ihnen bekannten Person Mehmet Turgut verlassen können und die Eltern wären nicht in der sozialen Ausgrenzung gelandet.

Geht es um das zukünftige Verhältnis zwischen migrantischen Kreisen in der Bundesrepublik und der Polizei, so wird man ein weiteres zu berücksichtigen haben: Egal, ob die unzweifelhaft festgestellten und zumindest teilweise rassistisch geprägten Ermittlungen das Ergebnis eines institutionellen Rassismus sind oder „Ausrutscher“ einzelner Beamter, bleibt festzuhalten, dass sich bis heute kein einziger der Beamten, die tatsächlich in den Ermittlungen tätig waren, bei den Familien der Opfer ganz konkret für ihre eigenen Fehler entschuldigt haben. (Die allgemeinen Erklärungen von Politikern und höheren Polizeistellen ersetzt nicht das Eingeständnis des einzelnen Polizisten, dass er selbst Fehler gemacht hat.) Das gilt z.B. auch für den Polizisten, der der Ehefrau des ersten Mordopfers Enver Simsek sogar ein (frei erfundenes) Foto einer angeblichen Geliebten des Ermordeten vorgehalten hat. Selbst für diese offensichtlich unzulässigen Vernehmungsmethoden hat sich nie ein Polizeibeamter entschuldigt. Wenn also die Migranten irgendetwas verunsichern muss, dann die Tatsache, dass die deutsche Polizei selbst in den Fällen, in denen sie offensichtlich falsch und gegen die Opfer ermittelt hat, nicht einmal die Größe besitzt, sich für diese Fehler zu entschuldigen. Und das spricht dann eher für ein grundlegendes Problem, als dafür, dass es sich um einzelne „Ausrutscher“ handelt. Insofern bleiben wir die Überbringer der schlechten Nachrichten, das Übel selbst haben wir nicht zu verantworten.

Eberhard Reinecke