Sterben für die Krim?

Wo bleibt die neue Friedensbewegung?

Wenn ich mit meinen 73 Jahren in Gesprächen auf mein Leben zurückblicke (das darf man schon mal in diesem Alter) habe ich immer betont, dass ich mich als Teil einer goldenen Generation fühle, die wenige Jahre nach dem Krieg geboren wurde, keinen Hunger kannte (was zugegebenermaßen nicht für alle meiner Generation gilt) sich Mitte der Sechzigerjahre politisch engagieren konnte, ohne Nachteile im Berufsleben fürchten zu müssen.

In all den Jahren hatte ich mich nur einmal richtig mulmig geführt, bei der Kubakrise 1962. Hier bestand real die Gefahr eines Atomkrieges, die Furcht davor hatte sich von meinen Eltern auf mich übertragen.

Wenn mir heute mulmig ist dann nicht einmal so sehr, weil unmittelbar ein (Atom)krieg droht, sondern vor allem wegen der fast gleichgeschalteten massiven Hetze in Richtung auf eine Politik der Stärke. Selbst die relativ bescheidene Abwehrhaltung der SPD gegen Parole: „Wir müssen Putin zeigen, wo der Hammer hängt“ steht massiv unter Druck, nicht nur vom Springer-Verlag, von dem man nichts anderes erwartet, sondern bis weit hinein in die taz, oder auch die heute Show oder extra 3. Diverse Kommentatoren und Interviewer wetteifern darum, die SPD in die Enge zu treiben, weil keine richtigen Waffen an die Ukraine geliefert werden. Sie scheinen sich für die Regierung fremd zu schämen, weil andere Länder – wie früher im Sandkasten – rufen: „Feigling, Feigling, traut Euch nicht Waffen zu liefern“.

Friedensbewegung 1981 – ein großer Irrtum?

Die kaum noch zu ertragene Hetze für eine Politik der Stärke vergisst offenbar die Gründungsgeschichte der Grünen und die Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Als von 1981-1983 gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa demonstriert wurde, war es die Mehrheit der SPD unter Helmut Schmidt, verbündet mit FDP und CDU, die eine Politik der Stärke gegen die Sowjetunion forderte und die Stationierung der Mittelstreckenraketen durch setzte. Es wäre schon interessant zu hören ob die Grünen die politische Bewegung, die zu ihrem Gründungsmythos gehört, heute für zu weichlich hält. Damals zumindest war ziemlich präsent, dass die Drohung mit eigenen Mittelstreckenraketen nur dann erst genommen wird, wenn auch die Bereitschaft besteht, sie einzusetzen. Wo ist denn heute das Bewusstsein, dass an die Ukraine gelieferte Waffen dort vielleicht auch eingesetzt werden (dass Helme auch einen Angreifer schützen können, sollte bekannt sein, wie es nun mal keine Defensivwaffen gibt)

Ukraine in die NATO?

Dass Putin kein lupenreiner Demokrat sondern ein autoritärer Herrscher ist, trifft zu. (Das gilt aber auch für NATO-Mitglied Erdogan und Ungarn und Polen haben nun auch ein erhebliches Defizit mit den Werten der EU). Das ändert aber nichts daran, dass die berechtigten Interessen von Russland im Rahmen einer Friedenslösung berücksichtigt werden müssen. Bei Verhandlungen mit anderen Staaten kann man sich bekanntlich deren Regierung nicht aussuchen.

Da wird dann das Völkerrecht bemüht, mit der These, dass jedes Land selbst entscheiden könne, welchem Bündnis es beitreten will. Das stimmt, allerdings gilt genauso, dass jedes Bündnis entscheiden kann, wen es in seine Reihen aufnimmt. Was würde sich eigentlich die NATO vergeben, wenn sie erklärt, die Ukraine nicht aufzunehmen? Immerhin hat die Sowjetunion/Russland z.B. die Neutralität von Finnland seit Kriegsende respektiert. Und wo blieben die glühenden Verfechter des Völkerrechts, wenn Kuba erneut ein Militärbündnis mit Russland eingehen würde und dort so viel russische Truppen stationiert würden wie NATO-Truppen im Baltikum?

Warum reißt sich die NATO um die Möglichkeit der Aufnahme der Ukraine? Soweit meine Geographiekenntnisse reichen, liegt die Ukraine nicht am Nordatlantik. Die Ukraine soll angeblich laut Stoltenberg ein „hochgeschätzten Partner“ sein. Die NATO behauptet, ein Wertebündnis zu sein. Dass dies nicht stimmt, kann man schon daran erkennen, dass die Türkei mit Erdogan immer noch NATO-Partner ist. Auch in der Ukraine sind keine lupenreinen Demokraten an der Macht. Die Ukraine ist ein hochkorrupter Staat (Platz 63 auf der Liste von Transparency International), der es geschafft hat EU-Gelder von 15 Milliarden innerhalb von fünf Jahren in die Taschen einiger weniger Oligarchen fließen zu lassen. In der Süddeutschen Zeitung heißt es dazu gestützt auf EU-Berichte:

Seit über zwei Jahrzehnten versucht die EU, ihren „strategischen Partner“ Ukraine zu fördern: mit Zuschüssen, Krediten und immer neuen Berater- und Förderprogrammen. Doch noch immer teilen Oligarchen, hohe Staatsdiener und korrupte Staatsanwälte und Richter den Staat unter sich auf, verschwinden Milliarden ins Ausland, ist die Ukraine mit wenigen Ausnahmen beim Aufbau eines Rechtsstaates ebenso wenig vorangekommen wie beim Kampf gegen die Korruption, so der ECA-Bericht „Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine“.

Kritische Journalisten leben in der Ukraine gefährlich und Nazibanden treiben ihr Unwesen. Jedes Jahr finden Gedenkmärsche für die Waffen SS Division Galizien statt, in der Ukrainer gemeinsam mit den Nazis sich am Holocaust beteiligten und am Krieg gegen die Sowjetunion. Die rechten Nationalisten sind mit dem derzeitigen Waffenstillstand in der Ostukraine nicht einverstanden.: „Unsere Hauptforderung ist es, den ukrainischen Militärs zu erlauben, mit der ganzen Bandbreite der Möglichkeiten das Feuer des russischen Aggressors beantworten zu dürfen.“ Da weiß man also, wem die Waffenlieferungen dienen könnten.

Es ist also offensichtlich, dass es in der Ukraine Kräfte gibt, die nur darauf aus sind, mit der Rückenstärkung der NATO die Ost-Ukraine oder die Krim zurückzuerobern. Warum sollte die NATO einen Staat in ihre Reihen aufnehmen der einen derartig massiven Konflikt mit seinem Nachbarn hat, der jederzeit zu einem Krieg führen kann?

Nun mag in dem Aufziehen von 100.000 Soldaten durchaus ein Drohpotenzial liegen, aber immerhin bewegen sich diese Soldaten auf dem Gebiet Russlands. Sind sie damit zwar nicht von der Quantität wohl aber von der Qualität her aggressiver als z.B. amerikanische Truppen oder auch deutsche Truppen in den baltischen Staaten?

Die ganze Hetze beruht auf der abgeschmackten These, dass wir (die NATO) die Guten sind und niemand vor uns Angst haben muss, und Russland sind die Bösen und Aggressoren. So kann man nun mal keine Verhandlungen führen.

Die Sichtweise Russlands muss berücksichtigt werden

Wenn ich als Anwalt in Vergleichsgespräche gehe, versuche ich mich auch in die Sichtweise des Gegners hinein zu versetzen und diese eventuell auch meinem Mandanten nahezubringen. Natürlich gibt es viele Mandanten, die davon ausgehen, dass Sie die Guten und der Prozessgegner der Böse ist und dass man sich deswegen auf sie verlassen könne, auf den Prozessgegner aber nicht. In den allermeisten Fällen ist es aber relativ einfach, der eigenen Partei zu erklären, dass der Gegner ein genauso großes Anspruch auf Sicherheit hat wie man selbst.

Versetzen wir uns also einmal in die Situation von Russland und deren Sichtweise. Warum will die NATO unbedingt die Ukraine aufnehmen bzw. aufnehmen können? Russland hat erklärt die Sicherheit der Ukraine zu garantieren, wenn diese nicht in die NATO aufgenommen wird. Welchen Zweck könnte daher aus russischer Sicht ein Beitritt der Ukraine zur NATO anderes haben, als die Möglichkeit, dass auch dort nicht nur ukrainische Truppen sondern auch die Truppen anderer Staaten stationiert werden. Und muss Russland tatsächlich glauben, dass die NATO nur in friedlicher Absicht Truppen in die Ukraine entsendet? Immerhin dürfte die Zahl der US Interventionen in fremden Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg deutlich höher sein als die Fälle, in denen die Sowjetunion/Russland in andere Länder einmarschiert ist. Nach überwiegender Meinung war der NATO-Angriff auf Serbien völkerrechtswidrig selbst wenn der grüne Außenminister Fischer dies mit einem Auschwitzvergleich rechtfertigen wollte. Und was war der Grund des bisher größten NATO-Einsatzes (Afghanistan)? Gab es einen Angriff des afghanischen Staates? Der Vorwurf war allein, dass Al-Qaida in Afghanistan Unterschlupf gefunden hatte, und von dort aus die Anschläge vom 11. September geplant wurden. Selbst platteste Falschbehauptungen über chemische Waffen im Irak reichten für den US-Angriff. Warum sollte also aus russischer Sicht darauf vertraut werden, dass die NATO friedlich ist? Dass die NATO nicht in der Lage wäre, jederzeit einen Kriegsgrund zu konstruieren, wenn es dann gewollt ist. Nehmen wir die heutigen Vorwürfe, dass aus Russland ein Cyberkrieg geführt wird. Ab wann ist das dann ein Bündnisfall? Warum sollte es daher nicht tatsächlich berechtigt sein, dass Russland von der NATO Garantien verlangt?

Man kann gerne völkerrechtlich weiter die Auffassung vertreten, dass die Krim zur Ukraine gehört, allein schon die Tatsache, dass niemand im Westen eine (erneute) Volksabstimmung auf der Krim fordert, macht deutlich, dass es eigentlich unumstritten ist, dass die weitaus überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim sich selbst bei einer von der UN organisierten Wahl für Russland entscheiden würde. Es ist selten, dass ein Militär mal etwas Sinnvolles erklärt, aber dass die Krim verloren ist, das stimmt. Man muss aber befürchten, dass andererseits Kräfte in der Ukraine auch für die Rückeroberung der Krim in einen Krieg ziehen würden, insbesondere wenn Sie meinen, die NATO auf Ihrer Seite zu haben.

Wenn wir einmal einen Moment unterstellen, dass auch Russland kein Interesse an einer militärischen Auseinandersetzung hat, könnte man sich bei einer Erklärung über die Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO und einer Volksabstimmung auf der Krim doch wegen der Ost-Ukraine im Sinne eines föderalen Staates einigen, wie in früheren Minsker Abkommen schon mal angedacht waren.

Vielleicht erinnern wir uns daran, dass die Beendigung der Kubakrise 1962 keineswegs ein einseitiges Zurückziehen der Sowjetunion war, sondern dass die USA sich ihrerseits verpflichteten, Raketen aus der Türkei abzuziehen bzw. dort nicht aufzustellen. Dieser Teil der damaligen Vereinbarung ist allerdings erst später bekannt geworden. Damals wurde also die zugespitzte Kriegsgefahr auch durch Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion beseitigt.

Abschließend: In seinem Film über den 11.09.2001 und den anschließenden Irakkrieg interviewt Michael Moore verschiedene Kongressabgeordnete zu der Frage, ob sie denn auch ihre Söhne in die Armee geschickt haben, damit diese im Irak kämpfen. Die Reaktion war abwehrend. Ich finde allerdings, dass all diejenigen die jetzt eine Politik der Stärke mit Waffenlieferungen fordern, bereit sein sollten, entweder selbst in einen Krieg zu ziehen oder zumindest ihre Kinder zu animieren, dies zu tun. Die Vorstellung, dass es nicht wie bei Preußens darum geht, Menschen wie Zinnfiguren hin und her zu schieben, sondern dass es eventuell um reale Tote geht, die vielleicht auch die eigene Familie treffen können, könnte vielleicht doch hilfreich sein.

Eberhard Reinecke

P.S. Noch etwas zum Gashahn, den Putin angeblich abdreht. Es ist unbestritten, dass Russland peinlich genau die Verträge einhält und die Mengen liefert, die früher bestellt waren. Dass Russland nicht mehr liefert ist eine normale kaufmännische Entscheidung (sei es auch mit politischen Hintergedanken). Das wirkliche Problem besteht doch in der „just-in-time“ Sucht. Weil man jahrelang gut damit gefahren ist, möglichst spät und dann günstig zu bestellen, hat man sich selbst von Russland abhängig gemacht. Niemand hätte die deutschen Energiekonzerne davon abgehalten, früher größere Mengen zu bestellen, die Russland dann sicherlich auch geliefert hätte.